15. November 2015

Evolution Blues

 

For this the road we walk along/
Is not the road we started on

(The Godfathers)

 

 

 

Während Gabriel sich mit seinem Realismus hinter Kant und Descartes zurückfallen lässt – die Urväter von Konstruktivismus und Dualismus –, findet der aus Belgrad stammende amerikanische Philosoph Thomas Nagel, Jahrgang 1937, seine Wurzeln einerseits in der nachkantischen Tradition des deutschen Idealismus, andererseits in der Antike bei Platon.

 

Wollte man Nagels Kritik am naturwissenschaftlichen Weltbild anknüpfen an Gabriels Polemik gegen Steven Hawking, man müsste fragen: Ist denn wenigstens die Weltordnung innerhalb jener „physikalischen Provinz“ plausibel? Das nämlich streitet Nagel ab. Schon auf dem Umschlag seines Buches „Geist und Kosmos“ verspricht er eine Antwort darauf „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“. Dieses quasi als alternativlos anerkannte Welt-Modell beruhe nämlich auf der Annahme eines materialistischen Reduktionismus: Was wir Geist nennen, muss sich auf Materie zurückführen lassen. Wie und wo genau der Übergang zwischen den Sphären stattfindet, bleibe stets mysteriös – genealogisch wie systematisch.

 

Weder die Physik noch die Evolutionsbiologie hätten bislang eine brauchbare Vorstellung dafür liefern können, wie aus Materie Geist entstehen konnte. So sei es einerseits eine selbstverständliche Voraussetzung der Naturwissenschaften, dass der Kosmos prinzipiell verstehbar ist, intelligibel, denn schließlich sei der Mensch in der Lage, ihn zu verstehen. Andererseits werde einzig die Entstehung von Geist aber mit einem mysteriösen Sprung in der Entwicklungsgeschichte erläutert. Stets erscheine Geist dabei als irgendwie aufgesetzt, als bloße Zugabe zur Naturordnung, zufällig daraus hervorgegangen, akzidentell.

 

Erklärungen dazu liefert die Evolutionstheorie damit, dass auch Geist (so wie auch Moral) in der Menschheitsgeschichte letzten Endes ein Fitnessfaktor gewesen sei, der das Überleben der Spezies gesichert habe. Nagel meint, diese Theorie leuchte nicht ein. Es zeige sich bei unvoreingenommenem Blick, dass das bloße Wirken physikalischer Gesetzmäßigkeiten komplexere Naturvorgänge schwer erklären könne. Es handele sich dabei mehr um „eine Annahme, die das wissenschaftliche Projekt leitet, und nicht etwa eine gut bestätigte wissenschaftliche Hypothese“.

 

Erstens sei die zufällige Entstehung eines so bedeutenden und raffinierten Phänomens unwahrscheinlich, zweitens müssten wir sein Vorhandensein als ein viel früheres und ursprünglicheres Vorkommen betrachten. „Eine echte Alternative zum reduktionistischen Programm würde eine Darstellung verlangen, wie der Geist und alles, was mit ihm einhergeht, dem Universum inhärent ist.“ Der materialistische Universalismus habe folglich versagt.

 

Die Idee, dass der Geist dem Universum inhärent ist, war tatsächlich ziemlich aus der Mode gekommen. Richard Rorty vermerkt vor rund 35 Jahren: „Weder gibt es heute noch jemanden, der an Platonische Ideen glaubt, noch würden die meisten auch nur eine Unterscheidung der sinnlichen und der intellektuellen Seele ins Auge fassen.“ Oder Herbert Schnädelbach in seiner Einführung zu Hegel: „Wir vermögen nicht mehr der Tradition zu folgen, die er [Hegel] als die der ,Intellektualansicht des Universums‘ bezeichnet.“

 

Aber kein philosophisches System ist vor seiner Wiederauferstehung auf einem anderen Level gefeit.i

 

Und so bekennt sich Thomas Nagel zu einem Modell, das in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend als mausetot galt: absoluter Idealismus nach dem Vorbild Hegels oder auch Platons.

 

In seiner Besprechung von „Geist und Kosmos“ii hebt Markus Gabriel hervor, Nagel zeige, „wie wir Bewusstsein, Wissen, Wahrheit und Werte realistisch interpretieren können, das heißt als etwas, das eine eigenständige Realität hat, die sich nicht auf irgendeine materialistische Weise reduzieren lässt.“ Das klingt, als funktioniere es völlig im Sinne von Gabriels Neuem Realismus. Aber für Nagel muss man dazusagen: realistisch und idealistisch — aber auch monistisch: „Die Auffassung, dass die Naturordnung im Kern rationale Intelligibilität aufweist, macht mich zu einem ... objektiven Idealisten in der Tradition Platons und vielleicht auch bestimmter Nachkantianer wie Schelling und Hegel, die üblicherweise absolute Idealisten genannt werden.“ Kernsatz dieser persönlichen, philosophiebiografischen Zuspitzung ist die visionäre Formulierung: „Jedes einzelne Leben bei uns ist ein Teil des langwierigen Prozesses, in dem das Universum allmählich erwacht und sich seiner selbst bewusst wird.“ Ein solches Bild vom schlafenden Riesen Universum wird vielleicht noch viele Philosophen beschäftigen, und das kann helfen, es einmal besser zu verstehen.

 

Jedenfalls hängt Nagel die Idee des (objektiven) Geistes sehr hoch. Die Evolutionstheorie und Theorien der biologisch-evolutionären Moralentwicklung erscheinen ihm nicht ausreichend, um dessen Existenz zu erklären. Es überrascht kaum, dass Nagel in den USA bereits kritisiert wurde, weil er Intelligent Design und Kreationisten in die Hände spielt; die die Evolutionstheorie ebenfalls nicht akzeptieren, allerdings aufgrund von religiösem Dogmatismus. Nagel begründet seine Skepsis gegen den herrschenden Naturalismus jedoch ohne Hintergedanken an ein Schöpferwesen.

 

Aber ist die Alternative zwingend? Warum soll es überhaupt entweder der Annahme eines Sprunges bedürfen, um die Entstehung von Geist zu erklären, oder aber seiner Nagel'schen kosmischen Präexistenz? Nagel verlangt nach einer „Theorie von allem“: „Was erklärt werden muss, ist nicht bloß die Versetzung des organischen Lebens mit einer Spur von Qualia, sondern die Entstehung von subjektiv individuellen Standpunkten – ein Typ von Existenz, der sich logisch von allem unterscheidet, das sich allein durch die physikalischen Wissenschaften beschreiben lässt.“ iii

 

Und wird Geist auf diese Weise nicht zu etwas Ominösem? Im Hinblick auf eine Philosophie der Verkörperung kann man auch fragen: Sollen wir einen prinzipiellen oder lediglich einen graduellen Unterschied annehmen zwischen dem Bau eines Termitenhügels und, sagen wir, Hegels Logik?

 

 

Ralf Schulte



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i Für den zweiten Teil von Rortys Einschätzung: Daniel Robinson etwa meint, dass in der Philosophiegeschichte diskreditierte Ideen wie Descartes Geist-Körper-Modell manchmal auf überraschende Weise neue Relevanz erlangen können (»Nach wie vor auf der Suche«, in: »Neurowissenschaft und Philosophie«).

ii FAZ vom 7. Oktober 2013

iii Es dauert 108 Seiten dieses eher schmalen Buches, bis das Thema Sprache im Abschnitt über Kognition zum ersten Mal eine Rolle spielt. Den Begriff »Qualia« hat Nagel in das Register von »Geist und Kosmos« nicht mehr aufgenommen. Die Debatte darüber hatte er 1974 mit seinem Text »What is it like to be a bat« angestoßen, in dem er schon damals die Grenzen naturwissenschaftlichen Erkenntnisvermögens aufzeigt.