19. Januar 2004

Elfenbeintürme zu Schwertern

 

Dieses Buch, wäre es nicht so umständlich geschrieben, hätte das Zeug, den Leser in Hypnose zu versetzen. Aber genau deshalb hat der Autor wohl so viel Umstände damit gemacht. Denn, ohne dass das Wort fällt, ist Hypnose sein eigentliches Thema. Es handelt sich dabei um eine gesellschaftlich produzierte Hypnose, und sie ist deshalb so wirksam, weil ihr Effekt wie von selbst geschieht. Und damit das Lesen nicht wie von selbst geschieht, hat Bourdieu ein scholastisches Buch geschrieben, „Meditationen“, die den Leser aus seinem gewohnten Gehäuse vertreiben wollen.

Dieses fasst der Autor zunächst unter dem Titel des akademischen Elfenbeinturms. Die Tätigkeit seiner Bewohner verdankt sich einer Einstellung, zu der nicht gehört, dass sie zu ihrem Geltungsanspruch ihre soziale Genese mitreflektiert. Denn Scholastiker, zum Beispiel Philosophen und andere Müßiggänger, haben, noch vor aller verschiedenen Ausrichtungen ihres Denkens, das gemeinsam, dass sie über eine Zeit verfügen, eine scholé, die schon Teil dessen ist, was sie produziert. Wie voraussetzungslos ein Denken auch sein will, wie rein eine Kritik sich auch aus sich selbst entwickeln möchte, so kann es beziehungsweise sie doch nicht die Zeit leugnen, die dazu aufgewandt werden muss, um es oder sie herzustellen.

Die scholé ist also nicht ganz so rein geistig, wie sie sich gerne geben will. Meist vergisst sie, dass auch sie, wie alle anderen sozialen Phänomene, sich einer Geschichte verdankt, die mit Machtspielen und Investituren zu tun hat, deren Fortbestand aber irgendwann einmal als gewissermaßen gottgegeben hingenommen wird. Der Habitus des Scholastikers steht dann nicht mehr zur Disposition, eben weil er Disposition geworden ist, das aber verdrängt wird. Mit dem Begriff des Habitus steht Bourdieu auch mit diesem Buch wieder zwischen individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftstheorien, deren Vertreter das gesellschaftliche Subjekt entweder zu stark oder zu schwach ausrüsten. Zu stark, weil darüber vergessen wird, dass es Verhaltensweisen inkorporiert, die es nicht selber geschaffen hat, die es aber gleichwohl als sein eigen sich zuschreibt und die ihm auch von anderen als sein eigen zugeschrieben werden. Zu schwach, weil eine gewisse Selektion im Rahmen gesellschaftlich relevanter Habitus dem Einzelnen nicht nur zugetraut, sondern auch zugemutet werden muss.

Die Paradoxie, die sich nun mit der scholastischen Einstellung ergibt, liegt darin, dass sie gesellschaftliche Distanzierungseffekte möglich macht, zum Beispiel dadurch, dass sie Zeit hat, sich Gedanken über gesellschaftliche Alternativen machen zu können, dass sie aber ihr abgelöstes Elaborat als ein solches hinstellt, das sich aus dem gesamtgesellschaftlichen Körper wie von selbst entwickelt hätte, dieses Elaborat sich aber ganz bestimmten Dispositionen verdankt, deren Perspektivik aber verschleiert wird. Die „scholastische Illusion“ verdrängt die Trägheit, mit der der soziale Körper behaftet ist, und die sich nicht nur durch eine bloße „Anrufung“, und sei sie noch so viel versprechend, überwinden lässt. „Wenn das Erklären dazu [zur politischen Befreiung] beitragen kann“, gibt Bourdieu zu bedenken, „so vermag doch nur eine wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Übungen einschließt, eine dauerhafte Transformation der Habitus zu erreichen.“

Wie eine Entwöhnung von bestehenden Dressuren auszusehen hat, das kann Bourdieu dem Leser, der sich diesen „Meditationen“ aussetzt, eindringlich zeigen. Insofern lassen sich diese Überlegungen nach Pascal auch als kantische Prolegomena lesen. Von woher aber das eigentliche Programm der Gegendressur kommen soll, muss man wohl der Initiative der Para-Scholastiker überlassen und deren Habitat, von dessen Güte man erst nachträglich wird erzählen können.

 

Dieter Wenk

 

Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt 2001 (Méditations pascaliennes, Paris 1997)