25. Oktober 2015

Vom Dreieck als Schamquadrat

  

In seiner neuesten Publikation »Lulu und das schwarze Quadrat« kombiniert der Comiczeichner Nicolas Mahler »Die Ikone der Moderne«, das »Schwarze Quadrat«, mit Frank Wedekinds »Lulu«-Tragödie von 1913. In diesem Jahr entwirft Kasimir Malewitsch laut Wikipedia eine Vorstudie zum Schwarzen Quadrat, ein schwarzes Dreieck als Bühnenbild für die Kollektiv-Oper »Sieg über die Sonne«. Was über dies gemeinsame Jahr hinaus beide inhaltlich verbinden könnte, bleibt bei Mahler leider ungeklärt. Am 28. Januar 2002 notiert Heinz Emigholz: »Das Grab von Kasimir Malewitsch zierte ein auf einen zurückgesetzten Sockel aufgestellter würfelförmiger Betonblock, in dessen Vorderseite ein Quadrat aus schwarzem Stein eingelassen war. Es sah aus wie ein Monitor der ersten PC-Generation. Auf dessen schwarzen Bildfläche sich alles – alles Denkbare, Sichtbare und jeder Prozeß, das Meer menschlicher Möglichkeiten – von außen von einem Betrachter, aber auch von innen aus der Dichte der Materie des Steins heraus, projizieren ließ.«

 

Erschienen ist der Text in seiner Essay-Sammlung mit dem Titel »Das Schwarze Schamquadrat«. Malewitschs Grab wurde im Zweiten Weltkrieg beim Vormarsch der deutschen Truppen auf Moskau zerstört. Das Schamquadrat bezeichnet bei Emigholz die Scham der Moderne. Es setzt aus dem Schamdreieck, jenem haarigen Sichtschutz im weiblichen Schoß, als diese sich noch nicht ganzkörperrasierten, und Malewitschs Quadrat-Ikone zusammen. Ein weiblicher Schicksalsaspekt ist es, durch Blicke von Männern gespiegelt zu werden, die so einen Teil ihres Selbstbewusstseins bilden. Und so wird der Akt der Rasur ein symbolischer, der als einer der Aufklärung, Licht ins Dunkel der Weiblichkeit bringen zu wollen, gedeutet werden kann. In dem »alles« offengelegt wird, wird die Rasur zur ästhetische Behauptung, nichts zu verbergen zu haben. Hier treffen sich Aufklärung und die symbolischen Formen von Dreieck und Quadrat. Und setzt man die Hypotenusen zweier Dreiecke passgenau zusammen, entsteht ein Quadrat.

 

Wedekinds Maler, mit dem Bedeutungsvollen Namen Schwarz, will Lulu besitzen, um sie nicht mehr besitzen zu müssen, denn noch ist sie mit dem Medizinalrat Dr. Goll zusammen, also eine Sache zwischen Männern. Sie wird zum Fetisch. Auch das »Schwarze Quadrat« ist ein Fetisch, wenn nicht der der Moderne, doch kann man es im eigentlichem Sinne nicht besitzen, denn es besitzt uns. Im Schwarzen Quadrat kreuzen sich also Fetisch, Ikone, Zeichen, Ding und Bedeutung. Gleich dem hölzernem Jesus am Kreuz. Beide sind nur eine Materialisierung auf Erden, durch die wir hindurch auf das Transzenden(tal)e sehen. Sehen ist hier vielleicht nicht das richtige Wort, denn wir erfahren das Ganze ja nur im Blick auf beziehungsweise durch den Fetisch. Und durch ritualisierte Glaubens- und Ausstellungspraktiken, sozusagen im Gebet, erfahren wir die dahinterliegenden, von mir aus, ewigen Werte, für die Kirchen, Archive und Museen zuständig sind.

 

Malewitschs »Schwarzes Quadrat« gibt es nur ein, vielleicht zwei Mal, in unseren Köpfen unendlich oft, solange wir dran glauben. Als der Schweizer Nationalheld Max Frisch 1991 in Zürich starb, glaubte man, alles Schriftliche von ihm zu kennen. Dann erschien 2008 »Max Frisch/Schwarzes Quadrat«, ein noch unbekannter Text zweier Vorlesungen von 1981. In dem erzählt Frisch die Anekdote eines Botschaftsangehörigen, der in der Eremitage das im Keller versteckte Schwarze Quadrat sehen möchte. Nach einigen Mühen gelangt er mit einer russischen Kuratorin ins Archiv. Er: »Ein schwarzes Quadrat ... das würde dem sowjetischem Volk nichts bedeuten, so wenig wie dem schweizerischen ... warum hängt ihr das nicht ein mal neben die Gemälde des sozialistischen Realismus, wo das sowjetische Volk sich erkennt bei der Arbeit für die Gesellschaft, und das Volk würde sehen, Malewitsch ist Quatsch! ... Sie brauchen Malewitsch doch nicht im Keller zu verstecken ... das Volk würde ihn gar nicht ansehen … Darauf antwortet die Kuratorin: ... das Volk könnte nicht verstehen ... aber es würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat.« Zwei gleichschenklige aneinandergesetzte Dreiecke ergeben ein Quadrat. Und schon haben wir die Fluchtlinien zwischen den Schenkeln, parallele Blickachsen, die sich im Unendlichen, vom Ich zum Du, kreuzen, sowie die Projektionen über den geschwärzten Spiegel der Seele, zum Eingang des Geburtskanal; gesetzt den Fall, man erinnert sich, gesetzt den Fall, man erinnert sich gern.

 

Christoph Bannat

 

 

Nicolas Mahler:

Lulu und das schwarze Quadrat:

Frei nach Frank Wedekind,

Suhrkamp Taschenbuch, 2014.

 

Heinz Emigholz:

Das schwarze Schamquadrat,

Martin Schmitz-Verlag, 2002.

 

Max Frisch:

Schwarzes Quadrat –

Zwei Poetikvorlesungen

Herausgegeben von Daniel de Vin unter Mitarbeit von Walter Obschlager.

Mit einem Nachwort von Peter Bichsel, Suhrkamp, 2008.

 

Brecht Vandenbroucke:

White Cube,

avant-verlag, 2013.