Sade mit Bataille oder: Bataille mit Sade
„Für den Augenblick müssen wir lediglich festhalten, dass dank Sade die Möglichkeit besteht, in eine Art Abgrund des Grauens einzutauchen, einen Abgrund, den wir kennen sollten, und gerade die Philosophie – ich vertrete hier die Philosophie – ist dazu verpflichtet, diesen Abgrund zu thematisieren, zu erhellen und bewusst zu machen ...“ [1]
Dieses 1956 von Georges Bataille geleistete Bekenntnis für den ebenso berühmten wie berüchtigten Philosophen, Romancier und Enfant terrible der französischen Intellektuellengeschichte Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade ist in gleich doppelter Hinsicht ein Plädoyer: Es ist ein Einspruch für die philosophische Rehabilitierung eines zu dieser Zeit fast vergessenen und nur unter der Hand gehandelten Denkers, es ist aber auch ein juristisches Plädoyer in einem Strafprozess gegen den Verleger Jean-Jacques Pauvert. Dieser wurde im Dezember 1956 angeklagt, durch die Veröffentlichung der als pornographisch klassifizierten Schriften Sades gegen die guten Sitten verstoßen zu haben. Neben Bataille war in diesem Prozess außerdem der Schriftsteller Jean Paulham als Zeuge geladen, daneben hatten André Breton und Jean Cocteau bereits im Vorfeld schriftliche Stellungnahmen zur Verteidigung des befreundeten Verlegers sowie zur Rettung der Literatur Sades eingereicht. Gerade weil dieser Prozess schließlich verloren ging und Pauvert für schuldig befunden wurde, ist dieses Verfahren ein eindrücklicher Beweis dafür, wie stark die ‚Literaten im Untergrund‘, die ‚bösen Philosophen‘ und Vertreter der aufklärerischen ‚Libertinage‘ des 18. Jahrhunderts bis in die französische Nachkriegszeit hineinwirkten [2]. In diesem aufgeheizten Klima stand viel auf dem Spiel: So ging es für die eine Seite um nichts Geringeres als die Verteidigung der Moral, während die andere um die Freiheit des Denkens fürchtete. Bereits 1955 hatte Simone de Beauvoir unter dem Titel „Soll man de Sade verbrennen?“ [3] einen provokanten Essay zur existentialistischen Ehrenrettung jenes verfemten Autors verfasst, den Apollinaire bereits 1909 apotheotisch als den „göttlichen Marquis“ gefeiert hatte. 1961 schließlich versuchte Michel Foucault dann die Quadratur des Kreises, indem er in seinem intellektuellen Nachruf auf den gerade verstorbenen Bataille, „eine für unsere Kultur seit Kant und Sade wesentliche Erfahrung erkennen“ wollte, die „eine Erfahrung der Endlichkeit des Seins, der Grenze und der Überschreitung“ [4] in unser Denken eingeführt habe. Die Konstruktion einer intellektuellen Wahlverwandtschaft zwischen dem Eremiten aus Königsberg und dem Inhaftierten der Bastille, die Foucault bis zu dem Bibliothekar, Schriftsteller und Philosophen Bataille weiterdachte, ist sicher gewagt, zeigt aber, wie vielseitig anschlussfähig Sade in der Rezeption war und bis heute ist.
Der Verlag Matthes & Seitz mit Sitz in Berlin gibt mit seinem in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ situierten Band „Sade und die Moral“ nun Gelegenheit, diese „Erfahrung der Endlichkeit des Seins, der Grenze und der Überschreitung“ im Werk und der Rezeption Sades aus der Perspektive Batailles neu nachzuvollziehen und zu erschießen. Es ist bereits der dritte Band, der in dieser Reihe zu Bataille erscheint, und kurze Aufsätze, Vorträge sowie Interviews thematisch geordnet versammelt, um damit teilweise bisher nicht verfügbare und abgelegene Texte erstmals für den deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen [5]. Genau wie für den vorangegangen Interview-Band „Die Aufgaben des Geistes“ zeichnet sich auch diesmal die renommierte Bataille-Kennerin Rita Bischof für Herausgabe, Übersetzung und Nachwort verantwortlich, die mit ihren Publikationen in den letzten Jahren maßgeblich zur Interpretation und Historisierung seines Werkes beigetragen hat [6]. Sorgsam ediert und präzise übersetzt, enthält der nun vorgelegte Band zu Batailles Beschäftigung mit Sade den zwischen 1930 und 1932 verfassten, jedoch erst posthum erschienenen Aufsatz „Der Gebrauchswert des D.A.F. de Sade“ in zwei abweichenden und unterschiedlich akzentuierten Versionen, in dem Bataille seine Theorie der „Heterologie“ über die Referenz Sade entwirft. Daneben umfasst die Sammlung die Essays „Sade und die Moral“ von 1948 sowie „Sade, 1740–1814“ aus dem Jahre 1953, die bereits zitierte Zeugenaussage „Die Rechtssache Sade“ und schließlich die beiden kürzeren Texte „Dalí heult mit Sade“ sowie „Eine Rezension“. Letzteren hatte Bataille 1929 anlässlich zweier Publikationen von Maurice Heine in der von ihm herausgegebenen kurzlebigen Kunstzeitschrift Documents veröffentlicht. In dieser Besprechung wendete er sich noch entschieden gegen eine Rehabilitierung Sades, die er als die „wohl abgefeimteste Beleidigung, die man ihm antun kann“ zurückwies und als eine Art Domestizierung oder besser: Entschärfung seiner intellektuellen Sprengkraft für eine mögliche subversive Praxis deutete. Der bereits über die deutsche Übersetzung von Batailles literaturtheoretischer Studie „Die Literatur und das Böse“ verfügbare Essay „Le secret de Sade“ wurde in diesem Band leider nicht noch einmal abgedruckt [7]. Die enthaltenen Texte, ebenso wie Bischofs kundiges Nachwort, laden dazu ein, beide Denker miteinander zu konfrontieren und gegen- sowie miteinander zu lesen. Die Leserichtung funktioniert dabei in beide Richtungen: ‚Sade mit Bataille‘, aber auch ‚Bataille mit Sade‘. Hierbei vertieft dieser Band einen zentralen Knotenpunkt der französischen Sade-Rezeption, der durch den Abdruck von Batailles „Sade und die Moral“ (in anderer Übersetzung) in Ursula Pia Jauchs „Sade. Stationen einer Rezeption“ bereits gestreift wurde [8]. Dieser Dokumenten-Band enthält außerdem Positionen und Reflektionen von Richard von Krafft-Ebing, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Pierre Klossowski, Albert Camus, Simone de Beauvoir, Susan Sontag und anderen.
Wie wichtig Sade unter den Intellektuellen für die Bewältigung der europäischen Nachkriegsgegenwart war, belegt ein Diskussionsbeitrag Batailles, der von einem seiner Vorträge kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überliefert ist und von Bischof im Nachwort zitiert wird. Im Mai 1947 hatte er im Rahmen des von Jean Wahl begründeten Collège philosophique über „Le Mal dans le platonisme et dans le sadisme“ gesprochen und im Anschluss eine düstere Vermutung geäußert, die Jahre später ikonisch werden sollte: „Verglichen mit den Hinrichtungen der jakobinischen Schreckensherrschaft, an die Sade in der Philosophie im Bourdoir dachte, kommt die Vernichtungswut der Nazis seinen Bildern, seinen Imaginationen natürlich sehr viel näher [...] gerade weil die Entfesselung der Leidenschaften, die sich in Buchenwald oder Auschwitz abgespielt hat, eine Entfesselung im Zeichen des Verstandes war.“ [9] Bataille sollte nicht der Einzige bleiben, der Sade von Robespierre zu Hitler verlängerte und dessen Schriften als eine subversive Machtkritik wider einen in den Exzess gesteigerten Staatsterror interpretierte: 1975 gab der linksintellektuelle italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini diesem Gedanken eine kinematografische Form, indem er Sades Szenario aus den „120 Tage von Sodom“ in seinem gleichnamigen Film vom 18. Jahrhundert an das Ende des Zweiten Weltkriegs in die faschistische Marionetten-Republik Salò verlegte. Obwohl der Film im Vorspann nicht auf Bataille, sondern auf Texte von Roland Barthes, Maurice Blanchot, Simone de Beauvoir sowie Pierre Klossowski als Inspirationsquellen verweist, scheint Pasolinis nach wie vor hoch umstrittene Reflektion des KZ-Systems genau das explizit zu machen, was Bataille bereits 1947 wie beiläufig angedeutet hatte. Obwohl klar sein sollte, dass die Nazis Sade nicht gelesen haben dürften, und dieser Vergleich wohl wenn überhaupt, dann nur zum Teil dazu beitragen kann, die unvorstellbaren Grausamkeiten des NS-Regimes zu verstehen (die sich aber eben nicht auf die psychologisierende Formel eines pathologischen Sadismus reduzieren lassen), so gibt er doch Aufschluss über intellektuelle Deutungs- und Bewältigungsversuche und die Virulenz Sades im Denken nach 1945.
Sade ist und bleibt eine schwierige Figur, die sich trotz ihrer von Gerichtsprozessen und Verurteilungen begleiteten Befreiung aus den verplombten ‚Giftschränken‘ der Bibliotheken sowie unzähligen Neuauflagen von Verlagen mit teils zweifelhaftem Adressatenkreis einer kritischen Rezeption immer wieder zu entziehen scheint. In diesem Kontext ist „Sade und die Moral“ ein gelungener und distanzierter Beitrag, sich diesem gefährlichen Denker über den produktiven Umweg Bataille – gewissermaßen aus dessen Deckung heraus – zu nähern. Dieser Band dokumentiert den Versuch eines französischen Intellektuellen, mit Sade fertig zu werden, ohne ihn zu begraben, und für die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu aktualisieren, ohne ihn salonfähig zu machen. Es ist der Flirt eines Skandalautors mit einem anderen, eines Adepten mit seinem Lehrer, aber auch der Versuch einer entlastenden Stellungnahme eines vereidigten Kronzeugen vor Gericht.
Patrick Kilian
Georges Bataille: Sade und die Moral, hrsg. u. mit einem Nachwort v. Rita Bischof, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2015; 129 Seiten, Klappenbroschur, ISBN: 978-3-95757-026-0
Fußnoten
[1] Georges Bataille: Die Rechtssache Sade, in: ders.: Sade und die Moral, S. 65 (Orig. in: L’Affaire Sade. Compte-rendu exact du procès intenté par le Ministère Public aux Éditions Jean-Jacques Pauvert, Paris 1957).
[2] Vgl. hierzu u.a.: Philipp Blom: Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München: Carl Hanser Verlag 2011; Robert Darnton: Literaten in Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, München: Carl Hanser Verlag 1985; Jean-Pierre Dubost: Eros und Vernunft. Literatur und Libertinage, Frankfurt/M: Athenäum Verlag 1988; aktuell siehe: Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie, München: C.H. Beck 2014 sowie Ursula Pia Jauch (Hrsg.): Sade. Stationen einer Rezeption, Berlin: Suhrkamp 2014.
[3] Simone de Beauvoir: Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, München: Szczensy Verlag 1964.
[4] Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 1, 1954-1969, hrsg. v Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, S. 320-342, hier: S. 330 (Orig.: Preface à la transgression, in: Critique Nr. 195-196 „Hommage à G. Bataille“ (1963), S. 751-769).
[5] Georges Bataille: Henker und Opfer, mit einem Vorwort v. André Masson, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2008; Georges Bataille: Die Aufgaben des Geistes. Gespräche und Interviews 1948-1961, hrsg., übers. u. mit einem Vorwort v. Rita Bischof, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2012, Rezension: www.textem.de/index.php
[6] Rita Bischof: Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2010; Rita Bischof: Über den Gesichtspunkt von dem aus gedacht wird, in: Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München: Matthes & Seitz 1997, S. 87-118; Rita Bischof: Souveränität und Subversion. Georges Batailles Theorie der Moderne, München: Matthes & Seitz 1984.
[7] Siehe: Georges Bataille: Sade, in: ders.: Die Literatur und das Böse, hrsg. u. mit einem Nachwort v. Gerd Bergfleth, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2011, S. 85-95 (Orig.: Le secret de Sade, in: Critique Nr. 15-16 (1947), S. 304-312).
[8] Siehe Fußnote 2.
[9] Bischof: Nachwort, in: Bataille: Sade und die Moral, S. 77-120, hier: S. 119.