14. Juni 2015

Keine Wahl

                                      

Ein Verfahren droht. Ich übte die Tätigkeit meines Ehrenamtes als Wahlhelfer – Schriftführerin im Wahlbezirk 17, OWiG Paragraph 224/5, Zeuge Herr Krippke – nicht aus, obwohl ich dazu verpflichtet gewesen sei. Aber man gebe mir Gelegenheit zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen, und es stehe mir frei, mich zu den Beschuldigungen zu äußern oder eben auch nicht auszusagen. Ich äußere mich: Sie hätten sich ordnungsgemäß abmelden, beziehungsweise einen triftigen Grund für Ihr Nichterscheinen vorbringen müssen, sagt die Frau vom Amt am Telefon, ich sei als Bürger dazu verpflichtet. Mein Vater sei gestorben, bringe ich hervor. Auch bei einem familiären Todesfall muss die Behörde umgehend und ausführlich informiert werden. Ich war mit dem Sterbefall beschäftigt gewesen. Wenig Verständnis am anderen Ende der Beamtenleitung. Nächste Woche habe ich eine Anhörung, ein weiteres diesbezügliches Schreiben werde mir noch zugesandt werden, einen schönen Tag noch. Am anderen Ende der Leitung wurde aufgelegt. Wann hatte ich zuletzt einen schönen Tag, ich kann mich nicht mehr erinnern? Auch das Schulsekretariat hatte mir eine Mahnung geschickt, für unentschuldigtes Fehlen. Meine „Krankschreibung“ sei nicht rechtzeitig eingetroffen. Es war wieder wie in der Schule, nur stand ich jetzt auf der anderen Seite, geändert hatte sich nichts, ich hasste die Lehrer – die jetzt meine Kollegen waren ­– genauso wie ich sie einst als Schüler hasste. Ich wollte auch nie Lehrer sein, aber als Historiker gab es keine Stelle, nicht einmal Teilzeit. So wurde ich Lehrer, also auch kein richtiger Lehrer, vielmehr so eine Art Lehrerersatz. Die Kinder mögen mich, sagen ich sei anders als sonst, wirke zurzeit irgendwie traurig. Mein Vater sei gestorben sage ich. Sie zeigen sich mitfühlend, einige umarmen mich gar, dürfen sie nicht, beziehungsweise ich darf das nicht zulassen, habe so etwas zu unterbinden – körperlicher Kontakt zwischen Lehrkörper und Schutzbefohlenen ist grundsätzlich untersagt. Sollte mich eigentlich dran halten, kann es nicht. Liegt nicht in meiner Natur. Mutter weint die ganze Zeit, ich kann sie nicht trösten, Vater war ihr Mann, fast zweiundvierzig Jahre, das ist länger als ich lebe. Ich wollte auch weinen, konnte nicht, keine Zeit, musste alle informieren, alles organisieren. Mutter war dazu nicht in der Lage – verständlich. Vaters letzter Wille, er wollte zurück nach Polen, wollte nicht in einem Land begraben werden, in dem er ohnehin nie heimisch wurde, das ihm kein Glück, sondern lediglich zwei Herzinfarkte beschert hatte, der Letzte wurde zu spät bemerkt, obgleich er sich im Krankenhaus befunden hatte – leider nicht mehr auf der Intensiv. Die Nachtschwester fand ihn, als es bereits zu spät war. Sie haben sich nicht korrekt entschuldigt mahnt der Schulleiter. Ich hätte angerufen und ein Schreiben geschickt, sage ich. Das sei viel zu spät auf meinem Schreibtisch gelandet, sagt er. Er habe große Schwierigkeiten gehabt den Lehrplan für die Woche umzustellen und Ersatz für mich zu finden - große Unannehmlichkeiten. Ich entschuldige mich, sage, ich sei in Polen gewesen, brachte dort meinen Vater unter die Erde. Er bekundet nochmals Beileid, fügt aber hinzu, dass Abmeldungen, Krankschreibungen und dergleichen in Zukunft ordnungsgemäß eingereicht werden müssen. Ich verspreche, zukünftig vorschriftsgemäß zu handeln. Dann musste ich auch Vaters Krankenkarte abgeben. Werfen Sie´s unten ein, sagt die Frau von der Krankenkasse, mehr nicht. Krankenkarten von Toten braucht kein Mensch. Mutter weint noch immer, jetzt noch mehr, seitdem Vater begraben wurde. Sie kann das Alleine sein kaum ertragen. Ich bin es gewohnt, sie nicht. Sie kommt jetzt jeden Tag, will reden, will trauern, will weinen, mal hysterisch, dann wieder still in sich gekehrt. Ich möchte auch weinen, aber ich kann nicht, muss Mutter trösten, und Unterricht vorbereiten, bin im Verzug, war eine Woche nicht da, der Lehrplan muss eingehalten werden. Mutter weint, ich tröste. Wenn sie geht, bin ich allein, sind wir beide allein, Mutter und ich, jeder für sich selbst. Ich musste die Beerdigung bezahlen. Mutters Ersparnisse reichten nicht, das Geld ist ja auch nichts mehr wert. Hatten das bisschen was sie besaßen Jahre lang auf der falschen Bank liegen. Aber eine richtige Bank gibt es schon lange nicht mehr. Vater bekam ja auch kaum Rente. Aber als Lehrer verdient man gut, kann sogar Beerdigungen bezahlen. Jetzt habe ich auch kein Geld mehr auf der Bank, ist ja auch nicht nötig. Vater ruht in Frieden, hoffe ich jedenfalls, liegt jetzt unter der Erde, in der polnischen Mutter Erde – matka ziema – wie es sein Wunsch war. Ein trauriger Wunsch - länger leben zu können, wäre sicher schöner, war ihm nicht vergönnt. Mutter ruft an, weint, ich halte den Hörer und höre ihr beim Weinen zu. Ab und zu sagt sie etwas, über Vater, ihren Mann, Kleidungsstücke, Gegenstände in der Wohnung, wecken Erinnerungen, Erinnerungen die aber auch nichts weiter sind als Erinnerungen, zumeist schöne Erinnerungen, mitunter verklärte, das schon, aber eben nicht mehr. Mutter möchte auflegen, kann nicht mehr sprechen, wir sprechen gar nicht, Mutter legt auf. Ich mache mich an die Unterrichtsvorbereitung, versuche nicht zu denken, nur das Nötigste. Mutter starb acht Monate nach Vater. Hatte es nicht überwunden ohne Vater, wollte nicht mehr alleine sein. Die Tochter reichte nicht, konnte einen Mann – meinen Vater – nicht ersetzen. Diesmal muss ich kein Ehrenamt ausüben, Wahlen sind erst in drei Jahren. Aber das Schulsekretariat wird sofort informiert; ich sage Mutter sei gestorben, man zeigt Verständnis, bekundet Beileid und ist zufrieden, dass ich mich ordnungsgemäß entschuldige. Aber es sind ja ohnehin bald Ferien. Muss mich um die Beerdigung kümmern. Mutter sollte zu Vater, hat es nie gesagt, aber ich nehme es an. Jetzt liegt sie bei ihm. Beide zusammen. Die Ferien sind vorbei. Ich muss den Unterricht vorbereiten. Ich bekomme eine neue Klasse. Da wird keiner sagen, dass ich ein bisschen trauriger wirke als sonst. Und dafür ist ja auch gar keine Zeit.  

 

Jörn Birkholz 

 

KURZVITA:

Jörn Birkholz

Geboren 1972, lebt in Bremen. Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Uni Bremen. Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften (u. a. erostepost, Sterz, Lichtungen).
Sein Romanerstling „Deplatziert“ erschien 2009 und befindet sich mittlerweile in dritter Auflage.

Sein neuer Roman „Schachbretttage“ erschien am 10. März 2014 bei Folio.