8. Mai 2015

Hans im Glück

 

Manche Namen sind Konzept, manche Namen bergen Gefahr. Gottfried Benn zum Beispiel glaubte in einer bestimmten Phase seines intellektuellen Lebens darauf hinweisen zu müssen, dass sein Nachname in keiner Beziehung zum hebräischen "ben" (Sohn) stünde. Seine Betrachtungen zum protestantischen Pfarrhaus sind auch unter diesem Aspekt sehr aufschlussreich. Der Autor Chaim Noll, seit 1998 israelischer Staatsbürger, wurde 1954 in Berlin, Hauptstadt der DDR, geboren unter dem Namen Hans Noll. So hieß er auch noch, als er 1984 nach West-Berlin ausreisen durfte. Sein Vater war der nicht nur in der DDR berühmte Schriftsteller Dieter Noll, der mit Die Abenteuer des Werner Holt (1960/63) einen Bestseller geschrieben hatte. Mit dem Status des Vorzeigeliteraten waren natürlich Privilegien verbunden, von denen auch die Kinder des Dieter Noll profitierten. Man ging auf spezielle Schulen, die Kinder lernten schnell viele Berühmtheiten der DDR persönlich kennen.

Dieter Noll hatte eine jüdische Mutter. In der Familie sprach man aber kaum darüber. Heikles Thema in der DDR, die sich zwar "antifaschistisch" verstand, aber mit lebenden Juden nichts anfangen konnte und wollte und mit dem Staat Israel auf Kriegsfuß stand. Chaim Noll erzählt in seinen Erinnerungen die Geschichte eines Fremdkörpers, als der er sich selbst fühlte (er sah nicht aus wie einer von "denen", die jüdische Erbschaft), und eines lebendigen Geistes in einem falschen Land. Der verordnete Kollektivismus von Geist, Seele und Körper in der DDR war nicht im Sinne des Heranwachsenden, der aufgrund seiner elitären Ausgangslage einen besonderen Einblick in die Machtverhältnisse dieses Staates gewinnen konnte. Chaim Noll attackiert nicht, er führt vor, so lange, bis die Dinge von selbst zusammenbrechen. Insofern ist die DDR immer schon eine Tinguely-Maschine gewesen.

Bei all den Ungereimtheiten und Absurditäten, auf die der Leser dieser Erinnerungen stößt (es sind Wiederbegegnungen mit alten Bekannten, die nicht erst auf den Fall der Mauer warten mussten, um den offenen Charakter des Widerwärtigen anzunehmen), erstaunt es, wie auch noch in den 80er Jahren viele DDR-Persönlichkeiten aus Literatur und Kunst von diesem Staat als dem "humaneren System" reden und schreiben konnten. Das symbolische Versprechen war einfach zu groß und schön. Und so muss man auch zwischen Hans Noll und Chaim Noll unterscheiden. Zwei gegenläufige Prozesse lassen sich beschreiben: Die Hebraisierung des Hans Noll (diese Geschichte böte vor allem Stoff für postsozialistische Erinnerungen, nach der Ausreise aus der DDR, die Zeit in Westdeutschland, Rom, Israel) und die wachsende Distanzierung des Chaim Noll gegenüber der missverständlichsten Idee des 19. und 20. Jahrhundert. Das Missverständnis durchzieht auch den jungen Hans Noll. Der sensible, wachsame, kritische, entlarvende, vergleichende Hans, der mit dem Hintergrundverstärker Chaim von Anfang an das repressive System des real existierenden Sozialismus spürt und erkennt, fühlt sich gleichwohl als "junger Kommunist", "von der Wahrheit des Marxismus-Leninismus überzeugt, von unserem östlichen Wir-Gefühl erfüllt". Wenn der Leser diese Stelle auf Seite 153 liest, schüttelt er den Kopf, denn von dem Wir-Gefühl kann von Anfang an keine Rede sein. Hier ist Chaim Hans auf den Leim gegangen. Der Leser bleibt trotzdem nicht stecken, denn die Erinnerungen lesen sich wie ein Abenteuerroman, Hans ist nichts weniger als ein Held, aber kein Held der Arbeit, sondern einer, der für seine eigene Sache kämpft. Er ist einer, der Verantwortung für sich selbst übernimmt und damit viel riskiert. Die letzten Sätze dieser Erinnerungen sind wunderschön und herrlich böse: "Wir waren im Westen. Ohne Aufsicht, zum ersten Mal uns selbst überlassen. An diesem Tag endete unsere Kindheit."

 

Dieter Wenk (5-15)

 

 

Chaim Noll: Der Schmuggel über die Zeitgrenze. Erinnerungen, Berlin 2015 (Verbrecher Verlag), 482 Seiten

  

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