5. Januar 2004

Wo nicht nur Baudrillard zur Schule ging

 

Zur dritten Auflage dieses Buches in Frankreich, 1992, teilt der Autor dem Leser unter anderem Folgendes mit: „Beim Lesen dieses Buches muss man berücksichtigen, dass es wissentlich geschrieben wurde in der Absicht, der Gesellschaft des Spektakels zu schaden.“ Hatte Debord etwa Bedenken, dass man den vermeintlichen Akt der Aggression ohne diese Mitteilung dem Buch nicht (mehr) anmerken würde? Wollte er ihm nachträglich einen kleinen Sprengsatz beifügen? Oder glaubte er, sich profilieren zu müssen, weil andere in der Zwischenzeit sich seiner Analysen großzügig bedienten, ohne auf einen Jargon zurückzugreifen, der das Buch heutzutage streckenweise unlesbar macht?

Auf jeden Fall fällt es schwer, sich vorzustellen, was genau der verhassten Spektakel-Gesellschaft hätte schaden können. Denn nach seiner eigenen Charakterisierung ist sie vollständig immun. Sie funktioniert wie ein Möbiusband: „Das Spektakel zeigt sich zugleich als die Gesellschaft selbst, als ein Teil der Gesellschaft und als Instrument der Vereinheitlichung.“ Man kann sich zu ihr stellen, wie man will, man findet immer nur das geronnene Bild einer Gesellschaft, die es geschafft hat, das Leben aus sich herauszustellen, damit man sie sich um so besser als ihr eigenes Modell betrachten kann. Reduziert auf die eigene Phantasie von sich selbst, bleibt dieser Gesellschaft nichts anderes mehr, als sich stets mit ihrer Hypnose kurzzuschließen, die da besagt, dass die Warenproliferation nichts anderes ist als die potenzielle Unendlichkeit des eigenen Selbst.

Diesen Schlaf wollte Guy Debord vermutlich unterbrechen. Ein bisschen soll das wohl wie bei Freud funktionieren. Wer erst mal kapiert, was ihn kaputt macht, hat schon den ersten und entscheidenden Schritt gemacht. „Die Kritik, die die Wahrheit des Spektakels erreicht, enthüllt es als die sichtbare Negation des Lebens; als eine Negation des Lebens, die sichtbar geworden ist.“ Es gibt allerdings in diesem Buch keine Stelle, an der der Autor seinen Begriff von Leben vorstellt. Was ja auch ganz schlau ist. So erklärt er selbst, dass es wohl kein authentisches Begehren gebe, das nicht schon einer gesellschaftlichen Ausrichtung unterläge. Aber schon im Satz danach sieht er dann doch in der Überflussgesellschaft ein Stadium erreicht, bei dem es zu einem „absoluten Bruch der organischen Entwicklung gesellschaftlicher Bedürfnisse“ gekommen sei. „Lebendiges Begehren“ auf der einen Seite, „unbegrenzte Künstlichkeit“ auf der anderen.

Das Ergebnis ist das gleiche wie bei Adorno. Nur dass auch die Kunstschiene nichts mehr hergibt. Bleibt die Kritik, die „Selbstbefreiung“ der Gesellschaft, die sich aus Analysen wie denen Debords und aus dem Kampf der revolutionären Klasse ergibt. Solche Appelle und Selbstermutigungen klingen heute eher rührend und lesen sich in ihrer Selbstrekrutierung wie Tautologien. Irgendwie zerfallen sie zu nichts und teilen dabei ironischerweise genau das Schicksal dessen, dessen Nichtigkeit ja aufgezeigt und zu dessen Beseitigung beigetragen werden sollte, des Spektakels, anders bekannt unter dem Namen „american way of death“. Trotzdem: Der Situationismus ist noch nicht tot. Man hat ihn nur verschoben (im Frühjahr nächsten Jahres geht es richtig los). Aber das ist ja nur seine eigene Strategie.

 

Dieter Wenk

 

Guy Debord, La Société du Spectacle, Paris 1967 (Die Gesellschaft des Spektakels)