29. Januar 2015

Möglichkeit einer Insel

 

Wer hätte 1980 gedacht, dass zehn Jahre später, noch vor der offiziellen Beendigung der Sowjetunion, der oberste Sowjet im Sommer 1990 die Marktwirtschaft einführen würde? Oder dass, nach der Tristesse des "real existierenden Sozialismus", in Sachsen und den anderen neuen Bundesländern "blühende Landschaften" entstehen würden? Vieles scheinbar "Tausendjährige" hört dann doch etwas früher auf. Die Geschichte ist also immer für Überraschungen gut und die Proklamation von deren Ende ein Zeichen für Fantasielosigkeit. Besonders anregend ist es, wenn sich literarische Geschichten mit Geschichte befassen, nicht so sehr als historischer Roman, sondern als Versuch der Vorwegnahme oder einfach der frei flottierenden Einbildungskraft.

Ein sehr bekannter Vertreter der mehr oder weniger auf die Zukunft bezogenen history-fiction ist der französische Autor Michel Houellebecq, der nach seiner Parodie auf die Autofiktion in Die Karte und das Gebiet sich nun möglichen Entwicklungslinien widmet, die aus dem Kraftzentrum von Islam und Koran plausibilisierbar sind. Dem angeblich aufstrebenden Islam steht auf der anderen Seite der schwächelnde Okzident gegenüber, eine Idee, die der Autor nicht erfunden hat und die auch nicht erst in diesem seinem sechsten Roman eine Art atmosphärische Basis abgibt für Irritationen sowohl des Individuums als auch des gesamtgesellschaftlichen Feldes. Michel Houellebecqs Helden sind zu 99 % Antihelden. Aber das verbleibende Prozent hat es in sich, in ihm materialisieren sich möglicherweise Verwirklichungswünsche oder es mag dafür stehen, einer inhärenten Tendenz konsequent nachgehen zu wollen. Das sind Dinge, die sich ätiologisch nur schwer nachvollziehen lassen, für die betreffende Person, um so mehr für den Leser, der nichts hat als die Fiktion und nicht den Humus, aus dem diese entstand.

Der Roman Soumission ist in der Ich-Form erzählt, der Erzähler 44 Jahre alt und zunächst Dozent, dann Professor an einer Pariser Universität. Eine Art schwarze Variante eines Campus-Romans. Lorbeeren hat sich der Erzähler mit seiner Dissertation erworben. In Frankreich ist es (noch) üblich, dass eine Dissertation nicht schon auf Seite 200 zuende gehen sollte. Die des Erzählers, an der er sieben Jahre gearbeitet hat, ist allerdings 784 Seiten lang. Der Titel: Joris-Karl Huysmans oder der Ausgang aus dem Tunnel. Die Wahl dieses Autors erweist sich, alles andere als überraschenderweise, als äußerst ergiebig für Soumission. Er ist Spiegel des Erzählers, und die Zeit, in der er lebte, Korrespondenzlandschaft der Gegenwart. Der Verwaltungsbeamte Huysmans wurde 1884 berühmt, als er den handlungsresistenten Roman À rebours (in der deutschen Übersetzung: Gegen den Strich) publizierte, die, wie man bald sagte, "Bibel der Décadence", eine ästhetizistische Zustandsbeschreibung eines Mannes, der sich komplett aus dem sozialen Leben zurückzieht und nur für sich selbst lebt. Diese Person, Des Esseintes, ist allerdings alles andere als autonom, sie geht im Laufe der Zeit an sich zugrunde. Das rein Ästhetische scheint nicht auszureichen und Friedrich Nietzsches Postulat, nur im "ästhetischen Zustand" sei das Leben gerechtfertigt, zumindest an diesem Beispiel widerlegt.

Und Huysmans ist in diesem Roman anwesend, er kennt die trügerische Autonomie, die das Ästhetische zu versprechen scheint, denn die Publikationsliste der auf À rebours folgenden Bücher zeigt, dass der Autor sich mehr und mehr der Religion zuwendet, und zwar der katholischen. Mit 44 Jahren, es ist das Alter des Erzählers von Soumission, findet Huysmans seinen Glauben wieder. Die Zeit, in der Huysmans lebte und schrieb, ist auch bekannt als fin de siècle, wenn man den Akzent auf die Kunst legt. Auf dieses "Ende" kam es in Frankreich zu mehreren Reaktionen, etwa den renouveau catholique, für den etwa Léon Bloy steht, eine ziemlich unangenehme Figur, die hier und da in Soumission erwähnt wird, oder auch die unter manchen Schriftstellern äußerst beliebte Action française, die man auch wegen ihres Antisemitismus als rechtsradikal bezeichnen kann. Houellebecqs Roman lässt sich so als fiktionale Wiederaufnahme des "Untergangs des Abendlands" lesen mit den allerdings heutigen zeitlogischen Konsequenzen aus dem Desaster, dass das Abendland sich nicht länger aus sich selbst heraus "rechtfertigen" kann.

Der Roman spielt im Jahr 2022, und was in diesem Jahr im Roman passiert, ist vielleicht nicht wahrscheinlich, aber doch immerhin möglich, nämlich politisch gesehen die Bildung einer "erweiterten republikanischen Front" aus Sozialisten, Konservativen (die im Grunde keine Rolle mehr spielen) und der "Muslimbrüderschaft", deren Chef der Präsident Frankreichs wird, Mohammed Ben Abbes mit Namen, ein Politiker eher gemäßigten Charakters, der mit den Islamisten nichts am Hut hat und haben will. Die erweiterte Front hat das Ziel, oder sagen wir, die Sozialisten, den Front national in die Schranken zu weisen, der von den Wählern zur stärksten politischen Kraft des Landes gekürt wird. Kurze Zeit später stellt auch in Belgien die Muslimbrüderschaft die Regierung, und in einer Reihe weiterer europäischer Länder einschließlich Deutschlands sind die Muslimbrüder mit von der Regierungspartie.

Soumission ist auch deshalb ein Campus-Roman, weil er auch nach der Eroberung des Abendlandes durch den Orient den Fokus auf das Universitätspersonal beibehält. Der Roman schildert die Befindlichkeiten vor allem des Ich-Erzählers im Vorfeld der entscheidenden Wahl von 2022 und die der Zeit danach. Der Huysmans-Spezialist ist ein typischer Houellebecq-Protagonist, Junggeselle, einsam, ohne Freunde, mit wechselnden, dem Universitätsjahr folgenden sexuellen Beziehungen zu Studentinnen, deren Vater er sein könnte, ohne Kontakt zu seinen Eltern, deren einziges Kind er ist und die er im Laufe des Romans zu Grabe tragen wird. Von der neuen Schwiegermutter als Witwe erfährt er, dass sein Vater ein neues Leben angefangen habe, von dem er nichts gewusst hat. Vita nuova. Das hätte der Erzähler auch ganz gerne, aber wie? Das, was man die Leute nennt, interessiert ihn nicht, intellektuell glaubt er, mit der Dissertation auch akademisch den Zenit überschritten zu haben, er scheint mit allem durch zu sein, nachdem auch seine letzte "Ex" mit ihrer Familie, aus Sicherheitsgründen, nach Israel ausgewandert ist. Selbstmord? Kein Thema. Diese auf Dauer gestellte persönliche Durststrecke wird überlagert von den Ereignissen um die Wahl des Jahres 2022. Und diese werden nicht ganz ohne Einfluss auf sie bleiben. Schon im Vorfeld der Wahl macht der "identitäre Block" von sich reden, der, anders als der "Front national", offen den Bürgerkrieg postuliert und sich nicht an die demokratischen Spielregeln halten will. Einige Vertreter des "Blocks" machen nach der Wahl Karriere unter der Herrschaft der Muslimbrüder, so auch Robert Rediger, der neue Präsident der Universität, an der auch der Erzähler arbeitet. Rediger ist ein Meister im Proselyten machen. Natürlich ist einiges neu an der Uni (aber nicht nur dort). Der Schleier für die Studentin, die Möglichkeit für den Dozenten, mehrere Frauen zu haben. Auch die Kleidung für die Frau ist nicht mehr so körperbetont. Der Erzähler, der dem mehr als latenten Antisemiten Rediger anfangs kaum Sympathie entgegen zu bringen vermag, lässt sich von dessen Charme (sein Lächeln) einfangen und davon überzeugen, dass es eine Freude sein kann, unter den neuen Verhältnissen akademisch für die Ewigkeit zu arbeiten.

Die letzten Seiten, die Bekehrung des Erzählers, werden von ihm selbst im Konditional antizipiert. Ein kleiner Abstand. Für einen großen Sprung. Auf einer bestimmten Ebene ist dieser Roman definitiv der letzte der modernen Literatur. Auf kein Neues.

 

Dieter Wenk (1-15)

 

Michel Houellebecq: Soumission, Paris 2015 (Flammarion)

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Roman. Aus dem Französischen von Norma Cassau, Bernd Wilczek, Köln 2015 (Dumont), 272 Seiten, Hardcover

 
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