9. Januar 2015

Fettecke toppt Schweinestall

 

"Sozialfall", "Schaubude" (im Gegensatz zum "Lichtspieltheater"), "Wurm" (eine Verschärfung des Kafkaschen Käfers Gregor Samsa) – das sind einige der Fremd- und Eigenbeschreibungen zu Person und Wirkungsbereich des seit den 1960er Jahren im deutschen Exil lebenden Künstlers, Lebenskünstlers, Antikünstlers, 1-DM-Buch-Verlegers... Vlado Kristl. Er wusste, dass man alleine mit Oberhausen nicht reich werden konnte. Aber warum ist die Beuysche Fettecke bekanntgeworden, nicht aber Kristls Schweinestalltüren? Nur weil sie nicht ausgestellt worden sind? Oder weil der symbolische Überhang fehlte? In Jugoslawien, wo er geboren wurde, hatte er Arbeitsverbot. In einem Brief aus den 1960er Jahren an Tito (!) versuchte er die Dinge, die bei der Einschätzung eines Films falschgelaufen waren, zu wenden. Vergeblich. Auch wegen Formfehler.

Die in diesem Reader abgedruckten Briefe Kristls gibt es als Faksimile zu lesen – und das ist auch gut so. Denn nur so liest man die Frechheit mit, die der naiv agierende (?) Filmemacher sich mit dem "Genossen Präsidenten" oder "Genossen Marschall Josip Broz Tito" erlaubte, wenn er ihn einfach mit "Sehr geehrter Herr Präsident" glaubte anschreiben zu dürfen. Korrekturen Kristls musste der Parteichef auch noch mitlesen. Wirklichen Erfolg hat Kristl, der 2004 in München starb, in Deutschland auch nicht gehabt. Aber nicht nur die "Mängel" liest man in dieser DIN-A4-Produktion mit. Die Rechtschreibwillkür in der Zweitsprache Deutsch hat vielleicht nicht immer System, ist aber oft witzig, und die Schrift ist ja sowieso nur ein Teil des Kristlschen Mitteilungsprogramms.

In jeden Brief sind Zeichnungen eingefügt, die wie auch immer auf das Geschriebene Bezug nehmen. Briefe an seine Kinder, seine Frau, Mitarbeiter an Projekten, Galeristinnen, zum Beispiel die ergreifenden an die Münchner Galeristin Dany Keller, die belegen, dass die hohe Zeit des Mittelalters mit dem Kult um die Frau noch nicht ganz ans Ende gekommen ist. Das liest sich weniger schräg als fatal. Im Jahr 2010 hat der Verbrecher-Verlag bereits auf den Künstler und Filmemacher Vlado Kristl aufmerksam gemacht, und zwar mit einer Publikation von Christian Schulte im Rahmen der Filit-Reihe. Im Inhaltsverzeichnis lesen sich darin so wunderbare Sätze wie: "Der misslungene Aufstand ist immer noch besser als die dicke Luft im Paradies", oder: Unbrauchbare Texte, unbrauchbare Filme, oder: "Nur die Armut hat was zu bieten" oder: "Denn wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt".

Vlado Kristl passte nicht in diese Welt, auch die akademische Anerkennung hat ihn nicht weitergebracht, die Münchner haben ihn rausgeschmissen ("Sozialfall"), die Hamburger hatten nach einem Jahr die Nase voll (HfBK). Aber Kristl ist einer, den man wohl nicht enttäuschen konnte. So oder so war er deplaziert. Systemfehler. Deshalb hält sich auch seine Verbitterung in Grenzen. Seine Briefe – gerade die Liebesbriefe – sind manchmal von einem umwerfenden umständlichen Charme, oder einer charmanten Umständlichkeit. Hier hat jemand nur auf sich gesetzt. Gewonnen? Verloren? Unentschieden.

Dieter Wenk (1-15)

 

Vlado Kristl: Noch – Immer nichts. Briefe und Zeichnungen, hrsg. von Wolfgang Jacobsen. Broschur, 128 Seiten, 4-farbige Abbildungen, 26 €, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag)

 

http://www.textem.de/index.php?id=2064

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon