2. Januar 2015

Verlagerungen

 

Wegen Hochverrats wurde der Anarchist Erich Mühsam 1919 zu einer Festungshaft von 15 Jahren verurteilt. Er war einer von vielen "Linken", denen nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik der Prozess gemacht wurde. Es kam zu Todesurteilen, viele erhielten lange Haftstrafen. Täter von "rechts", etwa der Mörder des sozialistischen Politikers Kurt Eisner, Anton Graf von Arco auf Valley, obwohl zunächst zum Tode verurteilt, kamen mit vergleichsweise milden Strafen davon, von Arco hatte zum Beispiel bedeutend mehr Freiheiten während seiner Landsberger Festungshaft im Vergleich zu Mühsam und seinen "Genossen" in Ansbach oder später, ab Oktober 1921, in Niederschönenfeld.

Erich Mühsam, das wurde schon in den früheren Tagebuchbänden klar, ist nicht nur Anarchist – er wendet sich gegen den "Marx-Aberglauben" und präferiert Bakunin –, sondern auch Berufsoptimist, die dialektische Denkweise sorgt für die fantastischsten Entwicklungsmöglichkeiten in Sachen "Weltrevolution" und Rätediktatur. Zwar gebe es immer auch Rückschläge, aber zuletzt stehe immer Großes bevor, wie der Tagebucheintrag vom 3.9.1920 bezeugt: "Aber mein Gefühl müßte mich arg täuschen, wenn nicht die Zeit der großen Freuden in Freiheit und Kampf nahe bevorstände."

Nicht so leicht ins Positive umbiegen lassen sich die internen Festungshaftverhältnisse. Zum einen werden die wenigen noch übriggebliebenen Freiheitsrechte immer weiter beschnitten, zum anderen gibt das Schicksal Mühsams ein trauriges Beispiel dafür, was heute unter dem Begriff des Mobbing bekannt ist, die soziale Isolierung, üble Nachrede, Intrigieren, was auf den sozialen Tod einer Person hinauslaufen kann. Und alles nur, weil Mühsam nicht die harte Parteilinie der KPD vertritt? Weil er sich weigert, zuzugestehen, dass Parteibonzen darüber befinden, wann und wann nicht das Proletariat reif sei für die Revolution? Mühsam merkt, dass er geschnitten wird. Eine Gruppe von "Genossen" scheint nicht mehr bereit, mit ihm Kontakt zu pflegen. Immer wieder fordert Mühsam eine Aussprache. Sie wird ihm nicht gewährt. Aber er merkt, dass Dinge hinter seinem Rücken geschehen. Briefe werden ihm nicht ausgeliefert, weil die "Gruppe" im Besitz des Schlüssels ist.

Mühsam spricht an mehreren Stellen von der "Gitterkrankheit", ein anderes Wort für "Gefängnispsychose", an der einige der Intriganten seiner Ansicht nach litten. Er weiß bis zu seiner Verlegung in eine neue Haftanstalt nicht, was die anderen ihm genau vorwerfen. Auf jeden Fall ist die Situation unerträglich, unerträglich auch für den Leser die Einsicht, dass sich hier auf kleinstem Raum angebliche Gesinnungsgenossen das Leben zur Hölle machen. Wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann, wird man immer wieder an den Unterschied erinnert: Da ist einer, der nicht richtig zu uns gehört: Die kleinste Abweichung ist zuletzt der größte Verrat. (In Peter Weiss' Marat/Sade sagt der Herr de Sade an einer Stelle zu seinem Kontrahenten Marat: "...glaubst du immer noch daß es möglich ist die Menschen zu einen da du doch siehst wie schon die wenigen die um der Eintracht willen begannen sich in den Haaren liegen und über Bagatellen zu Todfeinden werden".)

Aber auch in den großen Verhältnissen erhält Mühsam einen empfindlichen Dämpfer. Lenin, den er eigentlich als die große Hoffnung aus dem Osten und den Initiator der Weltrevolution ansieht, scheint plötzlich zu inakzeptablen Kompromissen bereit oder sich als Autokrat zu gerieren. Bei all dem muss der Leser bedenken, dass Mühsam, anders als wir, die Geschichte noch offen vor sich hatte. Er konnte nicht wissen, dass in der UdSSR bald der "Sozialismus in einem Land" proklamiert werden würde. Aber was genau lässt Mühsam an das "Neue" des Menschen glauben, in welches Himmelfahrtskommando ist er verstrickt? Am 8.2.1920 liest man die Formel, die auch in anderen Zusammenhängen der damaligen Zeit virulent ist, als Charakteristik eines ihm sympathischen Mitgefangenen: "Er ist aus seiner ursprünglichsten Natur Revolutionär und versteht Revolution ganz im anarchistischen Sinne: als einen Krater von Leidenschaften, dessen Eruptionen zerstören, zerrütten, begraben, Schrecken verbreiten und wildes Chaos schaffen müssen, um aus der Erschütterung der Seelen neue Menschen werden zu lassen. Der Aufbau des Neuen ist erst das zweite, er setzt die Zerschmetterung des Alten bis zur völligen Irreparabilität voraus."

Auch Malewitsch war Anarchist. Das schwarze Quadrat, Ironie der Geschichte der Kunst, hält den Wind an, der die schwarze Fahne der Anarchie zum Wehen brachte. Das Neue hängt sich dummerweise an die geprägte Form an, es ist ein Phänomen zweiter Ordnung; die Anarchie ist nicht symbolisierungsfähig. Sie kann sich immer nur selbst hinterherlaufen. Das ist das Komische, aber auch das Tragische bei Erich Mühsam.

Dieter Wenk (12-14)

 

Erich Mühsam. Tagebücher, Band 7, 1919-1921, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag)

 

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