8. Dezember 2014

Sein ungeborenes Kind

 

Rang-, Hit- und Bestenlisten machen immer Spaß. Selber machen vielleicht noch mehr als zur Kenntnis nehmen anderer. Was gut ist und was schlecht, was schön und was uninteressant und langweilig – endlich sagt es mal jemand, im besten Fall man selbst. Der Geschmackskrieg, der sich in solchen Listen zeigt, scheint immer ungemein unterhaltend und – erhellend. Die alte Kanonfrage, was wertvoll sei und was nicht, zielt auf nichts anderes ab. Nur sind solche Ranglisten freilich die allerstabilsten. Da tut sich nicht (mehr) viel. Aber vielleicht gilt das auch schon nur noch scheinbar. Jedenfalls hat jede Liste, die man kennenlernt, irgendetwas Überraschendes.

Wenn etwa Rainer Werner Fassbinder 1981 eine ganze Reihe von Listen aufstellt zu den schönsten, wichtigsten, besten deutschen Filmen, den  besten Regisseuren des Neuen deutschen Films, so erheitert, dass RWF oft an erster Stelle steht oder überhaupt sehr opulent vertreten ist. Natürlich ist er der beste Regisseur, vor Schroeter, Wenders und Thome, und natürlich sind die besten zehn Schauspieler die, die ständig in RWF-Filmen aufgetreten sind. Ein Regisseur, der auch ein paar Mal genannt wird, ist der Schweizer Filmemacher Niklaus Schilling, ein Jahr älter als Fassbinder. Schillings Die Vertreibung aus dem Paradies aus dem Jahr 1977 zählt er zu den "besten deutschen Filmen", Rheingold aus dem Jahr 1978 zu den "schönsten". Schilling selbst landet auf Platz 8 der besten Regisseure des Neuen deutschen Films.

Eine ganz anders geartete Liste hatte Niklaus Schilling ein paar Jahre vorher dem Presseheft zu Die Vertreibung aus dem Paradies beigegeben, nicht so sehr eine Bestenliste als eine Liste von deutschen Regisseuren, von denen er "gelernt" habe. Rainer Werner Fassbinder taucht in dieser Liste nicht auf, auch kein anderer Regisseur des Neuen deutschen Films. Man muss ein bis zwei Generationen zurückgehen, bekannte Namen wechseln mit eher unbekannten, berühmte mit berüchtigten. "[Paul] Leni, Lang, Lubitsch, Murnau, [Gerhart] Lamprecht, [Werner] Hochbaum, Ophüls, von Borsody, [Richard] Häußler, Fanck, Trenker, Berger, Pewas, Sierck, Bertram, Wisbar, König, Deppe, Staudte, Harlan, Leni Riefenstahl, Stemmle, Steinhoff, [Rudolf] Jugert, Hans Müller und [Georg] Tressler."

Es half nichts. Vergeblich sprach Schilling von "lernen" und nicht von "beeinflusst werden", im schwierigen Jahr 1977, als Schillings Film in den deutschen Kinos anlief, Namen wie Leni Riefenstahl oder Veit Harlan fallen zu lassen, war provozierend, ja skandalös. Nach einigen Kurzfilmen ab 1961 war Die Vertreibung aus dem Paradies Schillings zweiter Spielfilm. Karl Prümm, bis zu seiner Emeritierung 2010 Professor für Medienwissenschaft in Marburg, stellt die gar nicht mal so zahlreichen Filme des Schweizer Regisseurs so vor, dass man sofort Lust bekommt, sie sich alle anzusehen. Keine Frage, dass auch Prümm Niklaus Schilling zu den besten Regisseuren des Neuen deutschen Films zählt. Er nennt ihn einen "notorischen Grenzverletzer", Schilling sei sein eigener Autor, der Genres nicht befolge, sondern sie nutze. Als einer der ersten Regisseure des Neuen deutschen Films arbeitet er mit dem Steadycam-System, er interessiert sich für das Medium Video ("Verrat am Kino!"), etwa die Hälfte seiner abendfüllenden Filme machen das filmische Sehen selbst zum Thema. Schaut man in die Filmografie dieses filit-Buchs, fällt auf, dass Schilling seinen letzten größeren Film 1996 gedreht hat. Danach ist Schluss.

Das heißt, es gibt da noch ein unvollendetes Projekt mit dem Titel Sein Kind, das noch kein Produzent aus der Taufe gehoben hat, ein Film, der in den Tunnelsystemen einer vernetzten Bunkerstadt spielen soll, möglichesThema: Berlin und der Nationalsozialismus und wie man nicht davon loskommt. Vielleicht gibt es zu einem der nächsten Berlin-Jubiläen wieder etwas Geld, dann kann es mit Schillings Projekt endlich losgehen. Oder auch nicht.

Dieter Wenk (12-14)

 

Karl Prümm: Ein notorischer Grenzverletzer. Niklaus Schilling und seine Filme, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag), Filit Band 12, 240 Seiten, 18 €

  

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