26. November 2014

Von Kriegern und Wallfahrern


„Wohin wollen wir geh’n, wohin wollen wir geh’n? Wir wollen den Dschihad…“ Liedzeile des deutschen Rappers Denis Cuspert, derzeit Syrien

 

„Wir, die einfachen Kämpfer, empfanden bei Kriegsbeginn auch Befreiung, Reinigung und religiöse Ehrfurcht …“ Erzählerstimme aus „Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen“ von Günter Seubold

 

 „Was bei den Deutschen so auffällig fehlt“, so Cora Stephan in der NZZ vom 27. 12. 2013, „ist bei den Briten im Überfluss vorhanden, wo es in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Lite­ratur zum ‚Krieg des kleinen Mannes‘ gegeben hat.“ Wer, auf dieses Manko aufmerksam geworden, das Angebot an Büchern zum einschlägigen Thema durchmustert, mag neugierig werden auf die Publikation aus einem Kleinverlag, die eben dies verspricht: Darstellung einer Kriegsbiografie ‚von unten‘, aufgezeichnet von einem Kriegsteilnehmer aus ‚Kleinem-Leute-Milieu‘, mithin ‚aus erster Hand‘ und auch insofern ‚authentisch‘. Das mit Fotografien und Faksimiles ansprechend aufgemachte, im ‚DenkMal-Verlag‘ – nomen est omen –  veröffentlichte Buch hat den Titel „Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen – Aus dem Leben des Welt-Kriegers Georg Vojer erzählt von ihm selbst“.

 

Das vielversprechende „von ihm selbst erzählt“ auf dem Einband – dies muss vorweg gesagt sein – erfährt allerdings eine Einschränkung: Zum Schluss des Buchs gibt sich „der Autor“ als – „bürgerlich“ – Günter Seubold zu erkennen, Professor für Philosophie in Bonn, Enkel und ‚Ziehsohn‘ des ‚offiziellen‘ Erzählers Vojer. Des Kleinbauern und Korbmachers aus der fränkischen Provinz und Kriegsteilnehmer am Ersten Weltkrieg, geboren 1890 und gestorben 1984. Damit ist der Erzähltext nicht nach der Manier dessen entstanden, was man gegenwärtig „autobiografisches Schreiben“ nennt; zudem sind die in den Text eingeflossenen „Aufzeichnungen“ Vojers nicht als solche kenntlich gemacht. Man könnte also auch von einem historischen resp. philosophischen Roman sprechen. Allerdings fragt sich der Leser gelegentlich, ob da noch der Großvater spricht, der „einfache Mensch ohne höhere Schulbildung“, oder nicht vielmehr der gebildete Enkel.

 

Doch zum Inhalt. Vom dargebotenen Erzählstoff hängt es ab, ob sich hier exemplarisch ein spannendes, ein facettenreiches und historisch erhellendes Bild von der Lebenswirklichkeit des ‚kleinen Mannes‘ zu Kriegszeiten dem Leser erschließt.  Und da könnte der Lebensbericht des schlichten Mannes aus hinterster, ländlicher Provinz desto aufschlussreicher sein, als er sich nicht nur auf die aktive Teilnahme am Ersten Weltkrieg erstreckt, sondern auch den Zweiten Weltkrieg einbezieht, an dem Vojer nicht mehr selbst als Kämpfer teilgenommen hat, in dem er aber den Verlust seines 19-jährigen Sohns zu beklagen hat. Das Buch beginnt mit der Klage des Vaters über den als vermisst gemeldeten, höchstwahrscheinlich aber 1944 im Kessel von Jassy-Kischinew, dem zweiten Untergang von Hitlers 6. Armee, gefallenen Sohn. Ein anrührendes Lamento, das sich etliche Male wiederholt, bis es sich in einer ‚Vision‘ des gläubigen Katholiken Vojer beruhigt, bei der er sich vorstellt, wie sein Sohn im Augenblick des Todes einer ‚mystischen Lichterscheinung‘ teilhaftig wird. Von jenem ‚himmlischen Licht‘ herkommend, das durch die Fenster der Kirche „Vierzehnheiligen“ fällt, in der sich alljährlich der Veteranenverein, dem Vojer vorsitzt, zur „Kriegerwallfahrt“ versammelt.

 

Womit man sich als Leser auch stimmungsmäßig in medias res bewegt. Die Gebete und Gesänge der Wallfahrer gliedern die Erzählung, der Regisseur Günter Seubold hat es geschickt arrangiert. So werden von Station zu Station die Erlebnisse und insbesondere die wesentlichen Facetten der Persönlichkeit Georg Vojers aufgeblättert. Bei Letzteren handelt es sich erstlich um den Katholiken, dann selbstverständlich um den „Krieger“ Vojer, endlich um Vojer, den Sinnierenden, den existenziell Rückschau Haltenden.

 

Für Gott und Vaterland

Zum Katholiken Vojer zunächst. Als Gläubiger an „Kaiser, Gott und Vaterland“ zog er 1914 in den Krieg und als ein noch immer Gläubiger – abzüglich seines Glaubens an die „apostolische Majestät“ und ihre obrigkeitsstaatliche Welteinrichtung – kehrte er nach vier Kriegsjahren in die Heimat zurück. Die kollektive Gestalt der religiösen Sinnstiftung war zerbrochen, ihre individuelle Seite unangefochten, ja diese erscheint umso unverzichtbarer und entsprechend vital. An dieser inneren Stütze richtet sich der Kriegsheimkehrer Vojer auf, überwindet mit ihrer Hilfe – nebst einfachen Handarbeitstätigkeiten, selbstverordnete „Traumatherapie“ würden wir es heute nennen – seine „schwere Niedergeschlagenheit“ nach dem ‚mutwillig verlorenen‘ oder verschenkten Sieg sowie dem darauf folgenden „Schandfrieden“ von Versailles. Vojer reproduziert, würde ich sagen, die rechtskonservative Lesart der deutschen Niederlage.

 

Ein bellizistischer Gott

Für die meisten Leser wahrscheinlich keine neue Erkenntnis. Dass die genugsam bekannte Legende wie im vorliegenden Beispiel vielfach von ‚einfachen Menschen‘, die doch den ‚Schlamassel ausbaden‘ mussten, geteilt wurde, ist ebenso wenig etwas Neues. Interessanter und vielleicht erstaunlich für ‚säkulare Leserbewusstseine‘ dürfte sein – wir sind beim Katholiken Vojer – die Sicht der Religiosität verdankende persönlichkeitsstabilisierende Psychologie des gläubigen Protagonisten, was uns lebensnah, um nicht zu sagen drastisch vor Augen gestellt wird. „Litanei und Stoßgebet“, „Stellung“ und „Stoßtrupp“, „Graben, Grab und Geburt“, „O Haupt voll Blut und Wunden“ – Heiliges und Martialisches schieben sich ineinander, Schreckensbilder der Erinnerung und bloße Phantas­ma­go­rien des Schreckens amalgamieren textlich zu einem psychomentalen Konglo­merat des Entsetzli­chen und des Entsetzens. Für friedenszeitlich und postheroisch sozialisierte Leser fürwahr schwer verdauliche Kost.

 

Den Geschmack dieser Kost auf der Zunge, vermag der kritische Leser auch die sich unwillkürlich in ihm regende Vorhaltung politischer Willfährigkeit und bestimmter noch der psychologischen Kriegsertüchtigung an die Adresse ‚religiöser Ideologeme‘ nicht einfach ‚herunterzuschlucken‘. Wenn der Text die Johannes-Apokalypse mit den Worten „an dir will ich erproben meine Herrlichkeit“ zitiert und „sei getreu, mein Sohn, bis in den Tod! So will ich Dir geben die Krone des Lebens“, kann man das nicht – und auch der erzählende Vojer möchte es nicht – der Bedeutung nach auf den biblisch-theologischen Kontext beschränken. Man muss es mit den historisch-sozialen Umständen des konkreten Erzählzusammenhangs sowie der Mentalität des Weltkriegers ‚anreichern‘.  Die von der „Schrift“-Stelle dem Gläubigen verhießene „Auferstehung“ hat der Frontsoldat Vojer bis zur aberwitzigen irdischen Konkretion beim Wort genommen: aufstehen und vorwärtsstürmen, aufstehen aus dem Schlamm und den Exkrementen des Schlachtfelds, wieder und wieder aufstehen – „getreu bis in den Tod“. –  Derart  mikrologisch ausgearbeitet, bekommt man die politisch-ideo­logische Instrumentalisierung – weil Instrumentalisierbarkeit! – hochprozentiger Theologu­mena selten vorgeführt. Gerade auch für pazifistisch gestimmte, dem Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“ verpflichtete Christen, bei denen es gewiss die Schmerzgrenze überschreitet.

 

Im Übrigen wäre der federführende Koautor kein der Dialektik kundiger deutscher Philosophieprofessor, hätte er seinen erzählenden Großvater nicht ‚überredet‘, auf den folgenden, der christlichen Religion zur Ehre gereichenden Umstand aufmerksam zu machen: dass die weihnachtliche Verbrüderung über die Schützengräben hinweg zwischen Deutschen und Engländern Heiligabend 1914 – ehe man sich anderntags als tapfere Krieger wieder mit Granaten jeglichen Kalibers wechselseitig die Lei­ber in Stücke riss oder in heldenhaftem Nahkampf dem gegnerischen Kombattanten mit gezieltem Spatenhieb den Kopf vom Rumpf trennte – der Beweis sei für die die Kriegführung einhegende Macht des lebendigen Glaubens. Eine, wie die Autoren wissen lassen, im Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegebene auf Rückbindung an ein gemeinsames Transzendenzes gegründete Hemmschwelle. Beinahe genüsslich – absichtlicher Seitenhieb gegen eine ‚friedensfromm blauäugige Gutmenschen-Theologie‘? – erinnern Vojer und Seubold last but not least an die unübersehbar bellizisti­schen Züge im Antlitz des alttestamentarischen Gottes, deren Schlagschatten sich noch auf die opfertheologische Deutung des Kreuzigungstodes legen.

 

Der Archetyp des Kriegers

„Erzähl mir nichts!“ Mit dieser im Buch sinnigerweise auf die Apokalypse-Paraphrase folgenden Ermahnung des gegen die bloß fiktional erzählenden „Romanciers“ – Ross und Reiter werden nicht genannt – polemisierenden und alle Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nehmenden Seubold’schen Erzählers nun vom Katholiken zu Vojer, dem „Krieger“. Ja, Krieger, nicht Soldat. Letzterer ist ein typischer ‚Massenmensch‘ innerhalb der ‚Masse Mensch‘, die als Armee bezeichnet wird und bei der man zumeist ein geschichtliches Beispiel vor Augen hat, Hitlers Wehrmacht etwa. Mit dem Krieger verbindet man hingegen eine überzeitliche, quasi archetypische Gestalt, mit einer bestimmten Physiognomie und einem Ethos. Der diesen Archetyp Verkörpernde bleibt auch in einem Heer von Kriegern ‚Einzelner‘ eine indi­viduierte Gestalt, die man sich schwerlich anonym, gesichtslos vorstellen kann. Der ideale Krieger, erläutert Vojer, besitze einen ebenso sehnigen wie wendigen Körper von nicht allzu großer Statur. Neben diesen physiologischen Eckdaten definieren „Wille“ und „Moral“ als mentale Eigenschaften den Krieger. Moral bedeutet hier, vom „Sinn“ des Kampfs überzeugt zu sein, und entsprechend muss die „Demoralisierung“, d. h. der Sinnverlust, bei der konkreten Ausübung des Kriegerhandwerks als ‚ärgster Feind‘ angesehen werden. So weit das idealtypische Porträt des Kriegers, wie es sich aus Vojers sowohl allgemeiner Darstellung als auch persönlichem Erfahrungsbericht extrahieren lässt.

 

Verhängnisvolle Mystifikation

Eine spätestens mit Blick auf das 20. Jahrhundert verhängnisvolle Mystifikation? Ein Kriegermythos, bei dem wir Heutige uns gar nicht anders denn unbehaglich fühlen können? Muss, wer nach der Stalingradschen ‚Reinsze­nierung‘ eines „Leonidas bei den Thermopylen“ noch immer diese gymnasiale Schulbuchlegende aus einem philhellenistisch beduselten 19. Jahrhundert als zeitloses Tapferkeitsvorbild beschwört, sich nicht den Vorwurf verheerender Ignoranz gefallen lassen? „Wer  angesichts nahender Todesgefahr keinen Augenblick die Fassung verliert, wer noch, wenn er die Seele aushaucht, seinen Feinden mit festem und trotzigem Blick ins Auge blickt, der ist nicht von Menschenhand niedergerungen, sondern vom Schicksal. Er ist getötet, nicht besiegt.“ So das provokant zur Beglaubigung angeführte Wort Montaignes, der hier seine Abstammung vom kriegerischen Edelmanns-Stand nicht verleugnen kann. – Woraufhin Vojer noch mit einer Überhöhung ins Prinzipielle nachlegt: Der todesverachtende Krieger „allein ist der freie Mann, weil er dem Tod ins Auge schauen kann“. Erst ein ‚lebhaftes‘ Memento mori – und dafür sorgt am Nachdrücklichsten nun einmal der Krieg resp. das in ihm ausgeübte Kriegerhandwerk  – verspreche, so Schiller in seinem martialischen „Reiterlied“, „köstliche Zeit“. Wie uns auch Heidegger dies  mit seinem „Vorlaufen zum Tod“ habe bedeuten wollen; diesem etwas ‚gewöhnungsbedürftigen‘, anscheinend der Weltkriegserfahrung des Sturmangriffs – einem alles andere als bloß metaphorischen „Vorlaufen zum Tod“ – nachempfundenen Ausdruck.

 

Immerhin führt Vojer, wie um den perplexen Leser zu schonen, die Einschränkung hinzu: ob man „Soldat und Tod im engen, also quasi empirischen Sinne, verstehen“ müsse, oder ob man es „auch im übertragenen Sinne“ verstehen könne. Wie dem auch sei, Vojer-Seubolds „Mystik“ des Kriegers – „Schritte ins Unendliche“ – ist ein harter Brocken für Leser in einer seit mehr als einem halben Jahrhundert pazifizierten weltpolitischen Nische. Ist sie indes eine notwendige Provokation, weil sie zu denken gibt, geben sollte?

 

Psychologie des Dschihad

So tun wir uns augenblicklich schwer mit der Psychologie des Dschihadismus und noch schwerer damit, zu begreifen, was vorgeht in den Köpfen jener Jugendlichen aus unserer Nachbarschaft – Angehörige einer ‚bildungsfernen‘ Migranten-Unterschicht, der bildungslose Unterprivilegierte von einst, der ‚kleine Mann‘ der Weltkriege lässt grüßen –, die dieser Tage als „Gotteskrieger“ gen Osten ziehen, man könnte auch ‚wallfahren‘ sagen, um vereint mit IS-Brüdern sich ins „asym­metri­sche“ Kriegsgetümmel zu stürzen – um ‚morgen mit ihnen im Paradies‘ zu sein. „Wenn ich sterben würde, dann wegen meiner Religion, ohne zu zögern … Wenn ich die Chance hätte, erst nach Mekka zu fahren und dann nach Syrien: ich würd’s machen, ohne zu zweifeln, und ich würd‘ auf der Stelle losfahren.“ Sagt Leila, siebzehn, Verkäuferin in einer türkischen Bäckerei in München, Eltern aus Montenegro. Würde  es unserem ach so gebildeten und zivilisierten Hirn, das sich über dem Phänomen zu zermartern droht, helfen, wenn es einmal eine ungewöhnliche Querver­bindung zöge? Zu den blutjungen und nicht minder gläubigen Gottes- und Vaterlandskriegern anno 1914?

 

„Wir, die einfachen Kämpfer, empfanden bei Kriegsbeginn auch Befreiung, Reinigung und religiöse Ehrfurcht.“ Und noch in anderer Hinsicht hätten sie etwas „atemberaubend Neues“ erlebt: begann es doch zunächst mit einer „Reise“, nach Flandern, nach Frankreich – bis einem dann Hören und Sehen vergangen sei. Trotz des befreienden ‚Heraus‘  aus „der Bauerei und Korbmacherei“ sei er im August 1914 „doch nicht in Jubelstimmung“ gewesen: „Im grundlegenden und letzten Sinne war es für mich eine Pflicht, die zu erfüllen war. Die Pflicht, für Kaiser und Vaterland zu kämpfen und falls nötig auch zu fallen.“

 

Kriegerindividuation

Mit dem Sprung zur Rückschau auf das bittere Ende 1918 sind wir bei Vojer dem Sinnierenden. Aufschlussreich zu sehen, wie es dem durch den ‚verpatzten Sieg‘ und einen ‚schändlichen‘ Friedensvertrag in seiner Kriegerehre Verletzten dennoch gelingt, den ‚im Außen‘ erlittenen Sinnverlust innerlich zu kompensieren. „Was nun aber diese Demoralisierung durch die Versagung des letzten Durchbruchs anbelangt“ – gemeint ist die letzte Offensive des deutschen Heeres im Frühjahr 1918 –, „so war sie für mich, für die Formung meiner Individualität, noch wichtiger als der siegreiche Kampf. Denn das Individuum bildet sich mehr noch als im Erfolg in der Niederlage …“ Die in ehrenhaftem Kampf erlittene Niederlage als der dem Krieger adäquate ‚Individuationsprozess‘ – so ließe sich Vojers ‚subjektiver Sinn‘ seiner Krieger-Vita auf den Punkt bringen. „Ohne den Krieg wäre ich ein Abhängiger geblieben. Abhängig … vom Leben, vom Glück, von dem, was man vermeintlich besitzt an festen Vorstellungen und Werten …“ – Doch lässt sich Vojers Kriegs- und Kriegererfahrung wirklich als Beispiel für individuelle Sinnsuche im heutigen Verständnis anführen, wie der Vorspann zum Buch suggeriert? „… dass der Mensch seinen Lebenssinn heute nicht mehr über eine kollektiv geteilte Weltanschauung finden kann. Er muss ihn individuell suchen und mit der Tapferkeit eines Kriegers die Schläge des Schicksals ertragen lernen.“ Zweifel an dieser zeitgenössischen Auslegung sind angebracht. 

 

Denn zumal der über die Zeitläufte und sein Schicksal sinnierender Vojer zeigt sich als ein ganz und gar dem Zeitgeist und also einer kollektiv geprägten Mentalität verhaftet Gebliebener. Über seinen Lebensabschnitt unterm NS-Regime erfahren wir: dass der von dessen  Wirtschaftspolitik lancierte ‚Kleine-Leute-Kredit‘ ihm die Aufstockung seines Häuschens ermöglichte, plastisches Beispiel dafür, wie „Hitlers Volksstaat“ (Götz Aly) sich seine Volksge­nossen köderte. Für Vojer war Hitler „ein Angebot, das uns das Schicksal machte“. Er nahm es an und wurde NSDAP-Mit­glied. Was den durch die ‚politisch oktroyierte Niederlage‘ in seinem Kriegerstolz Gekränkten besonders für den Führer einnahm, war dessen Aufkündigung des Versailler Vertrags und mit dieser die Verweigerung der „Sklavenarbeit für das internationale Kapital“ (eine linke, sozialdemokratische Parole, die freilich auch im ‚linken Strasser-Umfeld‘ der NSDAP im Schwange war). Vojer zeichnet von sich das Bild eines Nationalsozialisten mit Eigensinn, der schon einmal der Parteikasse unter Hinweis auf die Raffgier der „Bonzen“ den Mitgliedsbeitrag verweigert und unter Hinweis auf das Bereicherungsgebaren gewisser „Parteibonzen“ vor dem Parteigericht damit sogar durchkommt. – Das auf die für ihn vielversprechenden Anfänge folgende unrühmliche Ende der NS-Herrschaft und die erneute Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg bedeuteten für dieses ‚Kind seiner Zeit‘ einen abermaligen Schicksalsschlag. Seitenlang zerbricht sich der im Kriegerhandwerk Erfahrene im Nachhinein den Kopf der Generalität, wie der Krieg an der Ostfront hätte anders und besser geführt werden können – und mithin auch Hoffnung für seinen Sohn bestanden hätte. Mitgefühl und Kopfschütteln lösen einander ab bei der Lektüre dieser Zeilen.

 

Soll man dem Frieden trauen?

Bemerkenswert und für postheroisch-pazifistisch sozialisierte Geister herausfordernd wird es dann noch einmal zum Buchende hin, wo Vojers Räsonnement eine lebensgeschichtlich unterfütterte Bilanz zieht in Sachen Krieg und Frieden. Wenngleich diese ins anthropologisch und ethisch Grundsätzliche ausgreifenden Passagen sich eher wie das durchreflektierte Fazit des Enkels, eines Philosophen eben, ausnehmen. „Der Friede, der lang dauernde Friede, sagt Hegel, bringe den Völkern auf mittlere und lange Frist Verderben. Er mache de­kadent, verliere den eigentlichen Sinn des Lebens aus den Augen, er lenke Augen, Sinne und Verstand auf Beiläufiges unter Geringschätzung oder Gar-nicht-Beachtung des Notwendi­gen.“ Und weiter im ‚Gedankenaustausch mit dem Philosophen-Enkel‘: „Hegel, sagte mein Enkel zu mir, sei die Vollendung und damit Krönung der abendländischen Metaphysik … Sind wir nur ehrlich, so können wir das Kriegsdenken dieser Denker nicht verleugnen oder etwa als Ausrutscher betrachten. Es gehört zu ihnen und steht im systematischen Zusammenhang ihres Denkens.“ Dann ein melancholisch grundiertes Einerseits-Andererseits: Rückblickend zum einen: „Höchst denkwürdig“, dass mein „Han­deln und Denken bezüglich des Krieges und des Militärs noch ganz in dieser Tradition stand.“ Zum andern in die Zukunft extrapolierend: „Mit mir geht dann wohl auch eine Zeit zu Ende, die Zeit, die im Krieg noch ein sittliches Moment zu denken vermochte. Und die erkannte, dass im Frieden womöglich größere Gefahren stecken als im Krieg.“

 

Kurz: Der ‚alte Krieg‘ und sein Diskurs sind wohl passé, aber das Autoren-Duo Seu­bold-Vojer  traut dem Frieden nicht … Und hat dennoch die Gelegenheit des relativ friedlichen euro­päisch-deutschen Gedenksommers 2014 zum Anlass genommen, eine recht grundsätzli­che und in anderer Hinsicht auch wieder sehr spezielle Erzählung über Kriegerhandwerk und Kriegerwallfahrt vorzulegen. Eine Kriegsgeschichte des ‚kleinen Mannes‘, ohne den die Großen ihre Kriege gar nicht hätten führen können. Allerdings nicht die Kriegsgeschichte des ‚kleinen Mannes‘, die es diesseits soziologischer Kategorisierungen klassen- oder schichtspezifischer Zugehörigkeit sowie demografischer, ethnischer, religiöser etc. Merkmalszuordnung – so nicht gibt. Anders als uns dies die zu Beginn zitierte Cora Stephan suggeriert.

 

"Quest for Significance"

Die gläubigen jungen Männer, die, rekrutiert aus den gesellschaftlichen Unterschichten, anno 1914 begeistert in die Schlacht zogen, stellten das Gegenteil entwurzelter Existenzen dar: Eine durch Sozialisation und lebensweltlichen Alltag tief in sie eingepflanzte eherne Weltanschauung, Lebensorientierung und Sinngewissheit prädestinierten sie förmlich dazu, sich von den herrschenden politischen Mächten und deren Militärs als ,Kanonenfutter‘ missbrauchen zu lassen. Bei den Dschihadisten von heute hingegen, soweit sie sich aus unterprivilegierten Migran­ten­milieus rekrutieren, handelt es sich um ‚entkernte Existenzen‘, ohne Halt und Sinn im Leben, um die sozial und mental ‚Heimatlosen‘ eines globalen Konsum- und Glamourkapitalismus. Ihre innere Leere im Verbund mit der Tatsache, dass sie von den Reichen und Mächtigen dieser Welt für deren Zwecke nicht benötigt werden und nicht einmal auf ein Miss­braucht­­werden ‚hoffen‘ dürfen, macht diese ‚kleinen Männer und Frauen‘ reif für die sich fundamen­tal-alternativ gebende Ideologie des Dschihad. Er bedeutet ihnen ihre „quest for significance“ (wie US-Soziologen das Phänomen seit Neuestem nennen), ihre ultimative und voraussichtlich tödliche Suche nach Bedeutung und Sinn.

 

Hans-Willi Weis

 

Georg Enzor Vojer: „Kriegerwallfahrt nach Vierzehnheiligen – Aus dem Leben des Welt-Kriegers Georg Vojer, erzählt von ihm selbst“. DenkMal Verlag, Bonn, 2014, 320 Seiten, 44 Abb., 22.- Euro.