13. Oktober 2014

Flakhelfer von 68


Marburg, Paris, London bilden die äußeren Stationen – Wolfgang Abendroth, Michel Foucault und Aby Warburg die intellektuellen Wegmarken einer theoriegetriebenen Reise durch die 1970er Jahre. Ulrich Raulff, ehemaliger Feuilletonist und jetziger Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, der 2009 mit seinem Buch Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben (München, C.H. Beck) einen regelrechten Kometen auf den deutschen Literaturmarkt geschleudert hatte, berichtet nun – weniger seitenstark – von seinen intellektuellen Wanderjahren. Von der bundesrepublikanischen Provinz, ins Mekka der strukturalistischen Theoriebildung und schließlich in die Abgeschiedenheit der Warburg’schen Bibliothek sollte diese Entdeckungsfahrt durch die stürmische Zeit der 70er Jahre führen. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Expedition in den Wirren und Nachwehen von 1968, am Ende einer Utopie, die Jimi Hendrix mit seiner apokalyptischen Collage aus amerikanischer Nationalhymne und Kampfhubschraubergetöse in Woodstock endgültig beerdigt hatte.

 

Raulff, der zu spät Geborene, kam für die Revolution nicht rechtzeitig, aufgehalten durch Abitur und Bundeswehr, bezeichnet er sich auf den ersten Seiten selbst als „Flakhelfer von 68“ (S. 11), als einen Nachzügler, dem scheinbar nur noch die Möglichkeit blieb, sich an der Front der ideologischen Grabenkämpfe verheizen zu lassen oder fahnenflüchtig zu werden und auszubüchsen: „Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich abends ratlos durch einzelne Kneipen der Linken schweifte [...] und nicht wusste, wo ich mich setzten sollte, weil jeder Tisch von einer anderen politischen Splittergruppe besetzt war. Irgendwann kam ich darauf, dass mein Platz wohl an der Bar war. Dort bildete ich fortan meine Ein-Mann-Gruppe und stand auf deren linkem Flügel“ (S. 26). Mit viel Witz erzählt Raulff vom intellektuellen Klima in Marburg, das wie ein Labor die explosiven Träume, heterogenen Gemengelagen und später auch Selbstzersetzungen und Auflösungsbewegungen der bundesrepublikanischen Linken auf einem Campus verdichtete. In dieser Bewegung wurde die Revolution zur Partei, die Diskussion zur Wortklauberei und der Kalte Krieg zur innerakademischen Kernschmelze inklusive Kettenreaktion – höchste Zeit für den Alleinesitzter Raulff, die Zelte abzubrechen.

 

Nächster Halt: Paris. Hier beginnt ein neues Kapitel, nicht nur im Leben des jungen Intellektuellen, sondern auch im Feld der Geisteswissenschaften. Strukturalismus und Poststrukturalismus eröffnen neue Denkräume, die von Kritischer Theorie und Postmarxismus bisher verstellt waren, und erlauben auch Raulff, völlig neu zu denken. Zu dem neuen Denken gehören hierbei auch neue, wilde Formen des Lesens, die Raulff schon seit seinen Kindertagen verfolgten. So wie er als Kind „ohne Rücksicht auf den Sinn“ (S. 30) Seite um Seite, Buch um Buch verschlang und sich ohne zu verstehen immer weiter quer durch die Weltliteratur las und „wie ein generöser Bankier dem Sinn unbegrenzten Kredit gegeben“ (S. 31) hatte, so konnte er nun  durch die Textgeäste von L'Anti-Œdipe und Mille Plateaux hindurchjagen. Es folgen Begegnungen mit Roland Barthes, Gilles Deleuze und Michel Foucault, der Raulff die Studienbescheinigung für den DAAD unterschrieben hatte und mit seinem „berühmten Haifischlächeln“ (S. 78) einen nicht geringen Eindruck hinterließ. Dass die neue Theorie nicht nur durch die messerscharfen Analysen ihrer Protagonisten bestach, sondern auch nach den Gesetzmäßigkeiten eines Starsystems funktionierte, das seine eigene Pop-Art und seinen eigenen style entwickelt und kultiviert hatte, wird auf Raulffs Ausführungen deutlich: „Foucault war eine lebende Ikone, ein wanderndes Bild seiner selbst. Die konsequente Reduktion, die er herbeigeführt hatte, die Glatze, die schmale Goldbrille, die Flanellanzüge, dazu der ewige helle Rollkragen – diese wenigen, prägenden Attribute machten ihn unverkennbar wie Marilyn Monroe oder Andy Warhol“ (S. 107). In eben diesen Zeilen drückt sich bereits eine neue Suchbewegung aus, die Raulff aus Paris nach London führen sollte. Denn sein Verweis auf die ikonische und bildhafte Gestalt Foucaults verharrt nicht in der Geste der Ehrfurchtsbekundung, sondern kündigt einen neuen Perspektivwechsel an, der auch einen Standortwechsel verlangte: Die Rede ist von der Ikonografie, Aby Warburg und seiner kulturwissenschaftlichen Bibliothek in London. Nach dem sich die französische Theorie für Raulff im Epigonentum verbraucht habe (er nennt Klaus Theweleit als Beispiel), suchte der unruhige Intellektuelle neue Impulse und findet diese im Bild. In London stürzt er sich in Warburgs Zettelkästen und beginnt ein neues Kapitel, das mit dem Ende der 70er Jahre koinzidiert. Die Zeit des wilden Lesens geht nun in eine Zeit des konzentrierten und asketischen Betrachtens über.

 

Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens ist die Hommage eines umtriebigen Intellektuellen an eine Phase, auf die heute gerne als „Generation Theorie“ zurückgeblickt wird. Für 68 zu jung, war Raulff für dieses Abenteuer gerade zur rechten Zeit geboren. Anekdotisch und mit großer Sprachfreude erzählt, ist dieses Buch eine Liebeserklärung an das wilde und sprunghafte Lesen zu einer Zeit vor Wikipedia und Hyperlinks. Nur der kurze Exkurs zum Punk, der ab Mitte der 70er durch die Clubs und Schallplattenspieler fegte, bleibt unscharf und ist ein Indiz, dass Raulff für diese Revolution wohl wieder zu spät kam.

 

Patrick Kilian

 

 

Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, 170 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-608-94893-6

 

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