Pillen für die Heimatfront
Natürlich hatte nicht Venus, sondern Mars Hochkunjunktur in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Niemand hat die Verschleierungs-, Verblödungs- und Verunglimpfungspraktiken des Marsianismus so ätzend dargestellt wie Karl Kraus in der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, entstanden zwischen 1915 bis 1917. Gleich zu Beginn heißt es: "Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht." Mars ist ein exzellenter Koch, Meister der Gerüchteküche. Diese Küche ist international, sie entnimmt den jeweiligen Ländern ihre besten Stücke, um sie in einem Einheitsbrei, aber mit einem spezifischen scharfen Schuss gewürzt, den Ländern, den Brei über sie kippend, zurückzugeben. Davon sollten nicht nur Front und Etappe, sondern auch die sogenannte "Heimatfront" etwas abbekommen. Und zwar nicht nur in Form von "Berichten" der heldenhaft kämpfenden Väter und Söhne, sondern auch als Bestätigung und Bestärkung des eigenen Bereichs "daheim", des schönen Vaterlands, das aus vollen Rohren die Versorgungslage meistere. 1916 war es dann so weit. Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner wird im dritten Kriegswinter, im Dezember 1916, in Berlin uraufgeführt. Die für Produktion und Verleih verantwortliche Firma trägt bezeichnenderweise den Namen "Mars-Film GmbH".
Die in der "Filit"-Reihe des Verbrecher Verlags erschienene Publikation von Britta Lange, Die Entdeckung Deutschlands, präzisiert im Untertitel: Science-Fiction als Propaganda. Dieser Propaganda-Film lief dann in gekürzter Fassung ab Februar 1917 in Deutschland, in unbekannter Bearbeitung in mit Deutschland befreundeten Ländern wie dem osmanischen Reich oder dem neutralen Ausland (Skandinavien, Niederlande). Erklärtes Ziel des Films: Klarstellung. Man wollte zeigen, dass Deutschland nicht am Ende war, moralisch, materiell. Die erste Szene des "Lichtspiels in fünf Akten", das als Ganzes als verschollen gilt und von dem nur noch ein etwa 15-minütiges Fragment existiert, spielt auf dem Mars, dessen führende Zeitung, Der Sonnensee, anders als die Erde über direkte Verbindung mit Venus verfügt. Ein Journalist dieser Zeitung, Mavortin, hört Kabelnachrichten der kriegerischen Parteien auf der Erde ab. Englische und französische Agenturen melden, Deutschland stünde unmittelbar vor der Kapitulation, da die Bevölkerung verhungere. Nachrichten aus Deutschland fehlen. Grund genug für die investigativen Köpfe – und für eine hübsche Frau, es soll ja auch ein bisschen Unterhaltung geben – auf die Erde zu reisen und Deutschland unter die Lupe zu nehmen. Die Marsmenschen landen dann etwas später in der Nähe des Marienplatzes in München, es herrscht Oktoberfeststimmung. Natürlich essen die übrigens deutsch sprechenden Marsbesucher Brezeln und Fleischklöße und trinken Bier. Nach einem Aufenthalt im Hofbräuhaus geht es im Speisewagen eines Zuges nach Berlin, wo man im Hotel Adlon residiert. Aber nicht nur die deutsche Versorgungslandschaft wird besucht und als vorhanden vermerkt, auch die Kulturlandschaften werden nicht vergessen – "alles im Überfluss".
Die Autorin resümiert: "In dem Verlauf der Reise spiegelt sich der propagandistische Wert des Films: die Widerlegung der alliierten Meldungen, das Deutsche Reich stehe vor der Kapitulation. Aus der Perspektive der Marsbewohner ist dies mitnichten der Fall. 'Die Entdeckung Deutschlands durch die Marsbewohner' ist ein Film über die Versorgungslage, ein Durchhaltefilm über die 'Heimatfront' für die 'Heimatfront'." Das Hauptanliegen der Autorin ist aber nicht ideologiekritisch, sondern medienkritisch, Britta Lange zeigt etwa, dass das Medium Film noch zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht als propaganda-tauglich betrachtet wurde – Film galt als Schmuddelware – und erst im Laufe des Kriegs die höheren Weihen als Lenkungswaffe erfuhr. Lange erinnert auch daran, dass die Ufa eine Erfindung im Krieg der Herren Hindenburg und Ludendorff war. Aber auch die künstlerische Avantgarde stand nicht abseits. "Ende 1917 erhielten die Maler Helmut Herzfeld (alias John Heartfield) und George Grosz den Auftrag, eine 'Reform der Filmpropaganda zu entwickeln'. Auf Vermittlung von Harry Graf Kessler, zuständig für die deutsche Kulturpropaganda in der Schweiz, wurden sie ins Auswärtige Amt gebeten." Was von den Gesprächen mit dem Generalkonsul Kiliani von der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes in vertraulichen Aufzeichnungen festgehalten wurde, ist wert, dass man es zur Kenntnis nimmt. Die beiden Maler empfahlen, den "expressionistischen Film zu pflegen, d.h. also den kosmischen und expressionistischen Ton, wie er zum Beispiel in dem bekannten Film 'Die Entdeckung Deutschlands' durch Vorführung von Scenen auf dem Mars angeschlagen war, weiter zu entwickeln und dazu noch den grotesk-komischen und exzentrischen Typ zu gesellen, wie er namentlich mit großem Erfolg in Amerika in Gebrauch ist. Auch da soll unter der Maske der kosmischen und expressionistischen bzw. grotesken Dichtung, die bei den Gebildeten [u. Ungebildeten] aller Nationen auf Beifall und Interesse rechnen kann, versucht werden, prodeutsche Propaganda zu treiben."
Wenn das Karl Kraus gewusst hätte. Aber er war ja da, die Masken abzureißen, die andere (sich) aufsetzten. Ein wenig von dem "kosmischen und expressionistischen Ton" ist übrigens noch in dieser kleinen Publikation zu spüren, und zwar anhand einiger Fotos aus den Fragmenten des verschollenen Films. Propaganda sieht man den bloßen Bildern dann nicht mehr an. Vertracktes Spiel.
Dieter Wenk (9-14)
Britta Lange, Die Entdeckung Deutschlands. Science-Fiction als Propaganda, Verbrecher Verlag 2014, Filit 13