23. September 2014

Geisterseher, Geister, Kobolde und eine Aerobic-Lehrerin

Fotos: Hans-Jürgen Weidlich

 

Eine sonderbare Gesellschaft. Insgesamt sind die Figuren recht aufgeregt. Ihnen mangelt das schläfrig Pompöse von Monumentalskulpturen vorchristlicher Zeiten. Sie sind von handlicher Größe, etwa so groß wie Hauskatzen, aber sackschwer (40 Kilo mindestens). Die Augen, wenn es denn die Augen sind, sind meist aufgerissen und scheinen etwas zu sehen, was sich hinter dem Betrachter abspielen muss. Wenn man sich umdreht, ist dort aber nichts Besonderes zu sehen. An diesem Umstand erkennt man ihre Familienzugehörigkeit, es sind sämtlich Geisterseher und selbst wohl auch Geister oder Aliens, zum Teil recht gut getarnt, wie man aus den »Men in Black«-Filmen weiß, zum Teil ist ihre wahre Natur aber auch nur nachlässig kaschiert.

So kann man von der Bärendame in Abendgarderobe und mit einer auffälligen Herznase zwar sagen, dass sie eine wirklich hochelegante Clutch-Bag trägt, diese aber nicht davon ablenken kann, dass die Obsession dieses Bärengeistes, die Zeit anzuhalten oder zu deformieren, damit einhergeht, dauernd ca. 100 Armbanduhrarmbänder stachelartig auf den Flügelkanten spazieren zu führen. Die scheinbar harmlose, eierige Flügelform, die an Bienen und Schmetterlinge aus Kinderbüchern erinnert, kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir einem Drachen gegenüberstehen.

Am besten getarnt in dieser sonderbaren Gruppe ist die Aerobic-Lehrerin im mintfarbenen Douglas-Top, aber auch sie verrät sich, denn Aerobic ist eine Lufttechnik, auch sie kann also (wie die Bären-Drachin) fliegen, übrigens ist sie eine der wenigen, die nicht starrt, ihr Zyklopenauge auf der Stirn blinkt freundlich, tatsächlich kommuniziert sie allerdings mit den grünlilienartigen Blättern, die aus ihrem Scheitel ragen, ein – das nur nebenbei – ungemein feines Sensorium, das Mobiltelefon am Gürtel ist nämlich völlig überflüssig für Leute wie die Aerobic-Lehrerin und gehört lediglich zu ihrer Tarnung.

Ein weiterer Tänzer ist der magere Bursche mit den ungeheuerlich gedehnten Ohrläppchen. Ein Wiederzusammenwachsen der Ohrläppchen ist bei diesem Weitegrad schier ausgeschlossen, es scheint dem Typ herzlich egal zu sein. Sein Unterkörper erinnert entfernt an Snoopy, sein Tanzstil an den der Derwische, die sich bekanntlich mit ausgebreiteten Armen so lange um ihre eigene Achse drehen, bis sie kontakt mit Gott hergestellt haben. Formal könnte man diese Tanztechnik auch eine anschauliche Kosmologie nennen, denn die Tänzer bewegen sich auf abgezirkelten Bahnen umeinander wie Planeten.

Eine der mit Abstand gewalttätigsten Figuren ist das Rumpfungeheuer, welches ohne ausgeprägte Klauen dem Betrachter seine massiven Armstümpfe entgegenstreckt. Er trägt, wie es schon die gottgleichen Herrscher Ägyptens taten, einen Schlangenkopf an der Stirn, damit ist es aber noch nicht genug, denn zusätzlich zu diesem absolut unmissverständlichen Hoheitszeichen bleckt er seine schiefen Zähne. Die einzig deutlich erkennbaren Augen hat die Schlange auf seiner Stirn. Die scharfkantigen Polyeder, welche an Ohren und Armstümpfen zu erkennen sind, haben etwa die Funktion von Radarreflektoren, die Kommunikation erfolgt hier also so, wie man sich die Kommunikation bei Delphinen vorstellt. Beine kann man nicht erkennen, auch Füße hat dieses Wesen nicht. Dieser Kandidat gehört offenbar nicht zu den Luftgeistern, er gehört vermutlich zu der Gruppe der Schlangenartigen, welche am Fuße der Weltesche nagen oder Midgard-artig die Welt umspannen, wenn sie nicht in Theben im Club Med auf Kur sind (das Leben als mystischer und physischer Kraftprotz, sprich als gewalttätige Figur ist viel anstrengender, als man sich das gemeinhin klarmacht, Zeiten der Rekreation und Rehabilitierung sind also unbedingt notwendig). 

Die Zwei, die sich eine ganze Weile lang als Mitglieder einer Boygroup tarnen konnten, sind erst kürzlich wegen zu deutlich alarmistischen Verhaltens aufgeflogen. Vor allem der rotköpfige kleine Kobold mit Schlangenhautschild und gläsernem Schwert ist ständig in höchster Aufregung, das fällt dann sogar im Showbusiness irgendwann unangenehm auf, er hat sich jetzt als »Wutbürger« in Stuttgart angemeldet. Sein Vorbild ist ursprünglich Jeanne d’Arc, wobei ihm die Wucht der historisch-mystischen Überlieferung den Atem nimmt, was ihn begeistert und erschreckt.

Sein Kollege mit dem schwarz-weiß gestreiften Mundschutz gehört verglichen mit ihm dann doch zu der lässigeren Spezies, trotz seiner intensiv ins Leere starrenden Augen. Seine Drahtfinger sind zu einem ganzen Bündel von Peace-Zeichen formiert, er steht sprungbereit wie in einem Werbeclip für Sportschuhe und scheint gerade eine Nachricht über die grünen Ohrimplantate zu erhalten, daher rührt vielleicht auch der weggetretene Blick. Auch er ist kein Flieger, seine relative Halslosigkeit, die weit oben am Kopf angebrachten Augen und die oben genannte Sprungkraft erinnern in der Physis stark an Frösche oder Kröten, auch die gegelten Haare lassen an ein eher feuchtes Habitat denken. Das es sich dabei mitnichten um Haarsträhnen, sondern um Brillenbügel handelt, lässt die Vermutung zu, dass man sich das Hirn dieses Wesens wie die Sehtest-Apparatur eines Augenarztes vorstellen muss; ein wunderliches System von Linsen, welche miteinander kombiniert und verschaltet zu den erstaunlichsten Ergebnissen kommen können. Vermutlich trägt er deswegen auch den Mundschutz, da im Zusammenspiel der Prismen unter umständen Lichtstrahlen von so heftiger Intensität aus seinem Hirn über den Rachenraum aus dem Maul heraustreten könnten, dass vorbeieilende Passanten Brandlöcher in ihren Ulstern davontrügen.

Geheimnisvoll und distanziert erscheint der Fuchs. Sein blinzelndes rechtes Auge macht uns glauben, er wüsste, was wir denken, die Wahrheit ist dramatischer, denn er weiß jetzt schon, was wir gleich denken werden. Er befindet sich in einer entspannten Hocke, etwa wie große Sportler zu Gast in Kindergärten oder wie ein Ritter, der sich die Schnürsenkel zubindet. Dass er ein Ritter und nicht etwa ein Knappe ist, ist unzweifelhaft, da er einen fremden Pelz als Kragen trägt. Von allen Figuren ist er am selbstsichersten und am wenigsten Mitteilsam; keine panisch aufgerissenen Augen, keine Ohrstöpsel, keine Mobiltelefone, kein Zähnefletschen. Er hat einen leicht verächtlichen Zug um den Mund und ist, wie man es ihm schon seit Jahrhunderten nachsagt, mit ziemlicher Sicherheit ein Einzelgänger.

(Dungkriegermeistermeinzamans EASY-EASY foundation. Sonderedition für
Verein Kunstsignale e.V. der Hansestadt Stade und dem Kreisverband Stade des Deutschen Roten Kreuz)
 

Nora Sdun

 

Dirk Meinzer: Immer des Nachts ... 


Dirk Meinzer: Sirenenheime


Dirk Meinzer: Seufzen II