Warum soll ich mir die Geschichte eines schwabbeligen, übergewichtigen Penners reinziehen? Was für eine Lust soll mich zum Durchhalten von drei Bänden Blast motivieren? Der Geschichte eines Unsympathen ohne Macht und ohne großes Identifikationspotenzial. Um Antworten auf die Fragen zu bekommen, musste ich beim und nach dem Lesen auch in mir lesen, denn ich las alle drei Bände mit zunehmender Begeisterung. Ist es die Lust an der Bedrohung, die mich weiterlesen ließ? Die bürgerliche Lust in Form von Angst, die durch Bedrohung durch körperliche Gewalt und sozialem Abstieg erzeugt wird? Denn Polza Manzini, die Hauptfigur aus Manu Larcenets Comic-Roman Blast führte einmal als Gastro-Schreiber mit Frau ein bürgerliches Leben. Von einem auf den anderen Tag verlässt er seine Frau und sein bürgerliches Leben. Er räumt sein Konto leer, um zunächst als Tippelbruder übers Land zu ziehen und sich später im Wald selbst auszuwildern. Ist es die heimliche Angst vor Verwilderung? Und die Lust an der Bedrohung der Freiheit, den einmal eingeschlagenen Lebensweg radikal zu verlassen? Polza wird damit ein unberechenbares Element der Gesellschaft und ist damit anderen Elementen schutzlos ausgeliefert. Vielleicht ist es die Lust des Bürgerlichen, ich meine damit jene untere Mittelklasse, aus der auch ich stamme, am Voyeurismus, in den Abgrund eines einzigen Subjekts zu blicken. Herr Andreas Platthaus von der FAZ, arbeiten Sie mit an der Antwort, der sie sich für eine Übersetzung von Blast ins Deutsche schon vor Jahren starkgemacht haben. Ist es der lustvolle Blick des Stinos in die Schlafzimmer der Unterschicht, als Bestätigung, dass er auf der richtigen, heißt: sicheren Seite des Lebens steht. In Blast ist es nur eben kein Schlafzimmer, sondern ein Zelt im Wald. Der Blick ins Privatleben der Außenseiter der Gesellschaft; Psychos, Spinner, Drogenabhängige, Obdachlose, Prostituierte, Mörder, Diebe, Spackos, Prolls, Trebegänger, Rumtreiber, Taugenichtse. Ist es der heimliche Neid der Mittelschicht, die solche Leben für „echt“ halten? Da sie sich das echte nicht selbstverständlich leisten kann und damit das Falsche kultisch verehrt. Dabei eingeklemmt in ihrer funktionellen, funktionierenden Mittelmäßigkeit? Giganten der Norm und der Normalität. Steht Polza Manzini für jene Figur, die sich und damit das Echte findet, indem sie sich wegwirft? Da, wo die Mittelschicht ängstlich um Identität und Besitzstandswahrung kämpft, setzt er sein Leben als Risikokapital, jenseits des Marktes bürgerlicher Wertschöpfung, ein. Als poetisch-nutzloses-lebensatmosphärisch-existenzialistisch-pures Zeichen seiner selbst. Polza als Held seiner selbst, für eine Idee, die er nicht kennt. Doch war seine Idee, langsam Selbstmord zu begehen, unter Zuhilfenahme von Alkohol und anderen Drogen.
Doch, einem Mord sei´s gedankt, kommt es nicht dazu. Denn die große Mitschreibinstitution in Form der Polizei setzt ihn fest und will seine Geschichte wissen. Und so erfahren auch wir seine Lebensgeschichte. Bei der Polizei sitzend erzählt er seine Biografie, die wir dann in Rückblenden bebildert erleben.
Einfach „Masse“ steht im Untertitel des erste Blast-Bandes. Masse ist die sichtbare Masse in Form von Körperfett. Die von Zeit zu Zeit durch Drogen leicht gemacht wird. Sie ist aber auch die abnehmende Körpermasse seines sterbenden Vaters. Fettleibigkeit wird in unserer Gesellschaft gleichgesetzt mit Unbeweglichkeit, Unbeherrschtheit und einem ungesundem Lebensstil. Und Stilfragen sind für die Mittelschicht besonders wichtig. Die ständig daran arbeitet aufzusteigen, verfolgt von der Angst abzusteigen.
Polza Manzini geplanter Selbstmord beginnt mit dem Tod seines Vaters. Nachdem im gleichen Jahr bereits sein Bruder bei einem Autounfall ums Leben kam, während seine Mutter, die nicht näher thematisiert wird, schon lange tot ist. Frankreich hat, anders als Deutschland, eine Tradition antibürgerlicher Außenseiter- und Kriminellenlyrik. Von François Villon, Paul Verlaine, Arthur Rimbaud, Jean Charles-Pierre Baudelaire, Jean Genet bis Albertine Sarrazin. Schriftsteller, die über die Literatur hinaus, eben auch für ihren Lebensstil zu Nationalhelden wurden. Eine Tradition, die bei Blast durchaus mitschwingt. Doch während die genannten Literaten das Genre Dynamische Junghelden verkörpern, ist Polza ein fetter Mittdreißger und als Kartoffelkopf mit Möhrennase auch noch fies gezeichnet. So können wir Polza Manzini leicht als die Verkörperung einer Depression und, wenn man will, als antikapitalistische Kritik lesen. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft stört der Körper, der nicht weiß, was er will, den heimlichen Vertrag der Körper. In einer Gesellschaft, in der man sich möglichst persönlich engagiert zeigt (demokratische Bürgergesellschaft), dabei ständig verfügbar ist, während man sich immer wieder, den Umständen entsprechend, neu zu erfinden hat (kapitalistischer Anpassungsdruck), ist die Depression die körperliche Kritik an diesem System. Indem keiner mehr an einer Idee von Gemeinschaft arbeitet, sondern jeder nur an seinem eigenen Lebensentwurf – und wenn`s nicht klappt, er eben selbst schuld dran ist. Bis Ende der 70er war es noch eine mythisch umwehte Auszeichnung, sich als Aussteiger zu bezeichnen, die an sich schon zur politischen Haltung verklärt wurde. Heute steigt man nur noch aus sich selbst, in Form von Depressionen, aus.
Vielleicht liest bei Blast die Lust an Theoriebildung mit? So lebt Polza Manzini alle Zeichen einer Depression. Als dieses Zeichen wird er zum Freiwild und zur Zielscheibe für Aggressionen und körperliche Gewalttaten ohne strafrechtliche Folgen. Auch deshalb zieht er sich im Laufe der Geschichte immer tiefer in den Wald zurück, in dem er, oft sensibilisiert durch Drogen, die Schönheit der Natur erlebt. Doch holt ihn die Zivilisation in Form von Krankenhaus, Polizei und Psychiatrie, den drei großen Mitschreibinstitutionen, immer wieder ein. Im Blast, der irgendwo zwischen Heroin und Acid-Kick liegt, erlebt er das psychedelische Einswerden mit der Welt, wie sie ist und nicht wie wir sie sehen, gepaart mit Flashbacks aus seinem Unbewussten, Vergangenen. Dabei geht es mystisch, sagenumwoben, selbstzerstörerisch und elementar existenziell zu. In Blast-Band zwei, Untertitel „Die Apokalypse des heiligen Jacky“, wird er unfreiwillig zum Komplizen eines Lustmords, dem seines heroindealenden Kumpels Jacky. Daraufhin rauchen sie ein letztes Blech mit Blast-Effekt. In diesem Comic kreuzen sich christliche Leidenswegmotive, Sozialkitsch von Naturaussteigern und Reportagewirklichkeit aufs Feinste. Sie nehmen den bürgerlichen Reprodukt-Leser in die Mangel. Ebenfalls steht der Leser zwischen den großen Auf- und Mitschreibinstitutionen unserer Gesellschaft; Polizei, Gericht, Psychiatrie (Wo sind unsere Biografien besser dokumentiert?), ohne die wir diese Geschichte ja nicht erfahren hätten, und der vierten Aufschreibinstitution in Vertretung der Comic-Roman-Kunst, als möglichem Gegenentwurf. Mit der Frage, wer denn nun das Vorrecht auf die wahre Geschichte hat, schließlich geht es hier um einen Mord, wenn auch nicht um den von Jacky.
Blast bietet uns, da die Hauptperson als Identifikationsfigur nicht taugt, also verschiedene Lesepositionen an. Wir können die Perspektive der Kriminalistik, der Kunsttherapie, der Naturbetrachtung oder des Art-Brut-Künstlers einnehmen. Manu Larcenet wäre kein guter Franzose, würde er nicht in Band drei, Augen zu und durch, die Brücke zwischen Kunsterfahrung und Naturimpressionen – von Claude Monet bis Pierre Bonnard – schlagen. Während die Darstellung des Blasts als Verweis auf Jean Dubuffet gelesen werden muss. So übernachtet Polza Manzini im leer stehendem Haus eines Art-Brut-Künstlers, der hier Selbstmord begangen hat. Gleichzeitig gibt es einen früh-künstlerischen, kultischen Verweis von dilettantisch reproduzierten Moai-Skulpturen. Kunst ist hier die illegitime, von den großen Aufschreibinstitutionen vernachlässigte Geschichte. Kunst als Comic bewahrt sich hier ihren Anspruch auf ein umfassendes Wirklichkeitsbild, inklusive privat-kultischer Mystik und Magie. Ohne diesen Anspruch wäre sie nur eine weitere Schreibinstitution. Vielleicht lesen wir all dies, wenn wir lesen, und nicht nur, wenn es hier geschrieben steht, sowieso, also ganz natürlich, mit?
Zu einer Zeit, da das Fremde mythenumwoben und per se interessant war, schrieb Albertine Sarrazin ihren autobiografischen Kriminellen-Roman Astragalus – das war 1965. Asragalus wurde letztes Jahr im Hanser-Verlag neu aufgelegt und erschien jetzt als Comic-Novelle. Das Fremde war Ende der 70er Jahre einfach interessant, jenseits jeglicher biografischer Verwertungsmechanismen. Es war jenseits von Massentourismus und Eurozentrismus oder als „Weiterbildungsmaßnahme im Ausland“ in einer Zeile im lückenlosen Lebenslauf angesiedelt. Als entferntes Zeichen zeigte es, dass das Leben auch anders aussehen könnte. Wenn es auf dem Rummel „Junger Mann zum Mitfahren gesucht“ hieß, dann war das ein Versprechen auf Abenteuer. Heute wohl nur noch als fester Beleg des Abstiegs. Das Wegenetz des Sozialen war in den 70ern enger geknüpft. Mythenbildung um Hippies, Spontis, Rocker, Schwule, Stricher, Prostituierte und Kleinkriminelle webten beständig an diesem Netz. Ein Knoten im Netz war Astragalus, die autobiografische Erzählung von Albertine Sarrazine. Die Comic-Novelle, Der Astragal, von Anne-Caroline Pandolfo/ Terkel Risbjerg, im Schreiber & Leser Verlag erschienen, schafft es nicht, an diese Mythenbildung anzuknüpfen. Zum Beispiel, wenn Albertine Sarrazin beschreibt, wie sich, auch in der Öffentlichkeit, ihr Pullover ohne BH auf der nackten Haut anfühlt, dann ist das eine komplette Welt – wer will das heute noch verstehen? Das war auch ein politisches Gefühl. Mit 18 flieht Albertine aus der Jugendhaftanstalt und bricht sich dabei den Astragalus. Nun lebt sie versteckt als Illegale, angewiesen auf die Hilfe anderer, die sich somit zu Komplizen machen. Die anderen, das ist hauptsächlich der Kleinkriminelle Julien, der sie bei Freunden im Milieu unterbringt. So ist Albertine gefangen, zwischen Krankenhaus, Gefängnis, illegalen Wohnungen, freundlichen Freiern und der Angst, als minderjährige Prostituierte entdeckt zu werden – alles streng autobiografisch. So spiel Zeit, immer bestimmt durch die drohende Inhaftierung, eine wichtige Rolle. Das Warten, bis man raus oder wieder rein in den Knast oder ins Krankenhaus, der nächste Freier oder bis Julien, der noch eine andere Geliebte hat, kommt. Zeit, die sie mit Schreiben gefüllt haben muss, bis endlich, nach einem Jahr, der Fuß wieder zusammengewachsen war. Zeit, in der sie ihre feinen Selbstbeobachtungen und Gedanken verfertigte. Zeit als schmerzhaft, allzu lang weilende Weile darzustellen, das war sicherlich auch eine Schwierigkeit für die Comic-Zeichner und Texter. Leider ist es ihnen nicht durchgehend gelungen. Vielleicht hätten sie bei den Meistern der kultivierten Langeweile Chris Ware, Daniel Clowes oder Seth genauer hinsehen müssen. Den Begleittext zum Comic hat Patti Smith geschrieben. Für sie war Astralgalus, so in ihrer lesenswerten Biografie Just Kids nachzulesen, ein lebensentscheidender Markstein, neben Arthur Rimbaud. In Just Kids werden die Künstler-Mythen und produktiven Missverständnisse, wie sie in den 60ern geprägt und bis in die 80er Jahre wirkten, deutlich. So kam es auch zu einem Missverständnis bei ihrem Hamburger Konzert Ende der 70er. Als 16-jährige Rimbaud-Fans der Punkband Slime ihr freudig rituelles Bierdosenwerfen an ihr zelebrierten und sie zur Fremdem in ihrem eigenen Konzert machten. Mit Punk begannen die integrativen Außenseiter-Mythen zu bröckeln. Heute sieht man, wie wichtig diese Volksmythen auch als sozialer Kitt funktionieren. Der Albertine-Comic schafft es leider nicht, die Kraft dieser Mythen zu verlebendigen, Albertines Feminismus und die Mythen der kämpfenden Unterschicht. Die Folge heute ist scheinbar der einsame Blast.
Christoph Bannat
Patti Smith: Just Kids, Kiepenheuer & Witsch
Albertine Sarrazin: Astralgalus, Hanser-Verlag
Anne-Caroline Pandolfo/Terkel Risbjerg: Astragal, Schreiber & Leser
Manu Larcenet: Blast, Reprodukt