18. Juni 2014

Kunstverläufe

 

Die Zahl der in Berlin lebenden Künstlerinnen und Künstler soll sich auf etwa 4000 belaufen. Die Zahl der von den Assistenten des chinesischen Künstlers Ai Weiwei im Lichthof des Berliner Martin-Gropius-Baus im Rahmen seiner Ausstellung "Evidence" aufgestellten Hocker beträgt ebenfalls circa 4000. Die Übereinstimung ergibt sich natürlich rein zufällig. Und doch kann man der Installation einen Anschauungswert in dieser Richtung nicht absprechen. Man stelle sich vor, Ai Weiwei würde zum großen Finale seiner Ausstellung alle Berliner Gegenwartskünstler einladen, sich auf den Hockern aufzustellen und in einem etwa 10-minütigen Referat ihr Projekt zeitgenössischer Kunst zu verkünden. Die Sache würde aufgenommen (jeder spräche in ein Mikrofon), vor Ort hörte man eine etwas irre kakofone Bergpredigt.

Man muss also die Sache herunterbrechen und eine Auswahl treffen. Aber fast alle zeitgenössischen Künstler sitzen in verschiedenen Booten. Diverse Richtungen. Diverse Geschwindigkeiten. Im 19. Jahrhundert gab es in den Pariser Frühjahrssalons die berüchtigte "Gemäldemauer". Heute ist man erst einmal mit einer Mauer aus lauter Namen konfrontiert, von denen die meisten von einer späteren Kunstgeschichtsschreibung auf ewig ungelesen bleiben werden. Wer schafft es, dass sein Name auserwählt wird?

Der Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler und Künstler Tom Holert widmet sich in seinen etwa zwölf Porträts zeitgenössischer Künstler verschiedenen Fragen bezüglich ihrer Strategien und versucht zunächst zu beschreiben, was einen solchen Typus Künstler auszeichnet, was von ihm erwartet wird: "Um als contemporary artist zu bestehen, sind umfassende Portfolios von Kenntnissen, Interessen, Strategien und Netzwerken die Norm geworden; die Fähigkeit und Bereitschaft, auf dem Hintergrund der Kunstgeschichte und des aktuellen Kunstgeschehens eine unternehmerische Haltung zum eigenen Selbst einzunehmen, Karriere und Kritik nicht als Widerspruch zu erleben, die performativen Repertoires des Künstlerischen zu beherrschen und zu erweitern, zwischen den Plattformen und Projekten zu navigieren, nicht selten als Plattform und Projekt zu handeln – all dies gehört zu den Schlüsselqualifikationen heutiger Produzentinnen und Produzenten von Kunst."

Vor diesem beeindruckenden Qualifikationsmarathon kann man kaum davon sprechen, dass das alte Künstlergenie abgedankt habe, es ragt nur nicht mehr so hoch auf, sondern ist in die Breite diffundiert, wo man es kaum noch wiedererkennt. In der Formulierung von Tom Holert: "Gegenwartskunst ist vor diesen Hintergründen eine schwierige, anspruchsvolle und sich immer weiter verästelnde Angelegenheit geworden." Ist aber dieser Satz so zu verstehen, dass frühere Gegenwartskunst, vor anderen Hintergründen, weniger anspruchsvoll etc. war? Wer soll so etwas entscheiden? Zumal eben die verschiedenen Hintergründe aus der Kunst etwas jeweils anderes machen. An einer anderen Stelle spricht Tom Holert von "viele(n) Teilerfolge(n)", "aber auch viel Vergeblichkeit" modernistischer, postmodernistischer und konzeptueller Verfahren. Nur wüsste man gerne, was das für Teil- oder Misserfolge sind, für oder gegen welches größere, anscheinend dem Künstler übergeordnete Projekt. Projekt zeitgenössische Kunst? Genau das gibt es natürlich (noch) nicht. Das wird etwas gewesen sein, das später unter einem Namen abgelegt werden wird, von dem wir heute vielleicht noch nicht einmal etwas wissen. Denn diese "diskursiv-institutionelle Formation" kann eben nicht, wie Holert behauptet, den Namen ,Gegenwartskunst' tragen, als Erbe von Modernismus und Postmodernismus. Denn sonst müssten wir diese Gegenwartskünste laufend nummerieren, denn jede Gegenwart hat eine Gegenwartskunst. Um aus dieser Tautologie herauszukommen, muss man Setzungen vornehmen, und das wiederum hat nichts mit zeitgenössischer Kunst zu tun als zeitgenössischer Kunst, das ist ein prinzipielles Zuwendungsproblem. Solche Setzungen ermöglichen vermutlich genau das Rezeptionsglissando des Kritikers, über das der diskursiv unbeleckte Betrachter nicht verfügt, worauf dieser mit den bekannten Reaktionsschemata antwortet.

Ein Beispiel: Am Anfang des Aufsatzes von Tom Holert zu einem Film von Mark Lewis heißt es: "Das Bild schwankt und zittert, als wäre es nervös, aufgeregt, ja ein wenig angetrunken. Dieses Schwanken ist nicht von vordergründiger Auffälligkeit, aber doch so spürbar, dass der Blick unwillkürlich nach Halt und Gleichgewicht sucht. Unruhe ergreift die betrachtende Person. Das Zittern des Bildes verweist auf einen spezifischen filmsemiotischen Code: Gemäß der Konvention des Point of View (POV) wird das Bild durch seine eigene Bewegtheit subjektiviert. Die Einstellung der Kamera scheint identisch mit dem Sichtfeld eines Lebewesens, mit dem sich wiederum das Publikum identifiziert. Unruhe schlägt um in Beunruhigung." Wenn aber der POV eine bloße Konvention ist, dann spricht nichts dagegen, das, was man sieht, auch ganz anders zu erfahren, dann könnte Unruhe auch in Neugierde umschlagen oder in Belustigung. Wollen Künstler nicht gerade solche Konventionen (wieder) aufbrechen? Sind wir auf ewig verdammt, etwa die Rückenfigur als romantisch zu sehen? Ein anderes Beispiel für einen "Übergriff": Holert macht sich hier zum Fürsprecher des Künstlers, über jede Interpretation hinaus: "Lewis bringt ästhetische, auf den Ebenen von Affekt und Sinn liegende Argumente vor, an diesen Orten festzuhalten, ihre Historizität und ihre Schönheit anzuerkennen, ohne dabei etwas von ihrer sozialen oder politischen Hinfälligkeit zu beschönigen." Aber geht es in der zeitgenössischen Kunst überhaupt um Anerkennung, gar um Schönheit? Und was wäre mit einer solchen Anerkennung gewonnen, da sie sich nur auf diesen Film beziehen würde? Gibt es Anschlüsse? Also doch wieder repräsentationale Kunst? Von der die gegenwärtigen Künstler sich verabschiedet haben?

Wenn man dieses Buch schließt, ist man sehr ratlos. Und eigentlich warten noch weitere mindestens 10.000 Analysen zeitgenössischer Künstler darauf, wahrgenommen und miteinander vernetzt zu werden. Nur wenige Menschen vermögen das zu leisten. Es sind die Märchenerzähler zum Mythos "Zeitgenössische Kunst".

 

Dieter Wenk (5-14)

 

Tom Holert, Übergriffe. Zustände und Zuständigkeiten der Gegenwartskunst, Hamburg 2014 (Philo Fine Arts), Fundus 217

 

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