3. Juni 2014

Auf-den-Schlips-Betretenheiten


Myriam Keil, die zuletzt mit ihrem Jugendroman „Nach dem Amok“ (Random House, 2011) Aufsehen erregte , ist versiert in Prosa und Lyrik und legt mit der „dezimierung“ ihren zweiten Poesie-Band vor.

In ihren Gedichten entwirft sie Bilder kristallklarer Momente mit sprachlichem Humor: „dann wirfst du das wort in den raum das ganz allein den staubsaugerbeutel füllt“ (aus: „tinnitus, tag dreiundzwanzig“).

Eine kleine Gedichtgruppe betitelt sie „archivbild“ und fächert diese auf von eins bis drei.

Es macht großes Vergnügen, Myriam Keil beim Ausbreiten ihrer Wahrnehmung zusehen zu dürfen. Denn es ist eine Vielzahl gigantischer Kleinigkeiten, die sie in ihrem Band zusammengetragen hat und die in ihrer Verknappung Verblüffung auslösen, einem das Gefühl schenken, dass der Zauber mit uns und noch lange nicht verflogen ist. Weil der Alltag so viel an kleinen Wundern bereithält, dass einem schwindlig werden kann. Wie zum Beispiel in einem snapshot wie diesem: „in mir wächst schleichend eine pflanze heran, von der kein arzt etwas wissen will.“ (Aus: „in mir eine pflanze). Das Drama verbleibt im Angedeuteten.

Ihr Material schöpft sie aus Erinnerungssequenzen und Reflexionen, die unter anderem auch um das Thema Beziehungen kreisen. Eben auch Krankheiten spielen eine Rolle und bieten Quellen.

 

… „war ich durch einen vorhang von fremder atmung getrennt“ (tinnitus, tag eins)

Myriam Keil wirft den Fokus auf kurze, kleine, manchmal auch rührende Sekundenblitze, in denen große Zusammenhänge eingefangen sind. Treffsicher in ihren Beobachtungen wartet sie mit pointierten Schlüssen auf: „mit einer berührung verwirfst du meinen maßstab, zeichnest landkarten auf meinen körper, eine ganze welt, bis ich mich in den allerkleinsten winkeln zu bewohnen weiß“ (aus „vielleicht ist es glück“). So gestaltet sich jede Seite des Bandes spannend.

 

„lebe sicher in den rechten winkeln der quadrate“ (aus „ph-neutral“): Das ist so anschaulich wie einfach.

 

Das Gedicht „ankleidezimmer“ führt in aller Kürze eine Kindheit vor Augen, die scheinbar ohne Urteil auskommt. Das ist schlicht beeindruckend, wie verknappt so etwas geschildert sein kann.

 

In „selbstähnlichkeit“ wird mit einem Bild die Tragödie der Flüchtigkeit … auf den  Punkt gebracht, kann man nicht sagen, eher: in ein Zerrbild geschoben.

 

Myriam Keil gibt Sekunden einen Platz in der Ahnengalerie der Ewigkeiten. Das geschieht manchmal super lakonisch und easy mit schöner Fluffigkeit.

 

„im teppichmeer versenken schränke ihre kufen“ („archivbild I“)

„am besten lebt’s sich in der schnittmenge zweier funklöcher“ (in „stadt land bus“)

 

„wo liegen die erklärten begrenzungen

 

unserer träume wenn die nacht nicht lang genug ist

für die angst nicht lang genug um zu vergessen

was du liebst wofür du den atem aufsparen

möchtest wie eine allerletzte grenze zur welt“ (aus „atemlöcher“)

 

Im letzten und vierten Teil des Gedichtbands, der „spannungsrisse“ betitelt wurde, herrscht ein anderer Kanon, spürt Myriam Keil anderen Gesetzen, Schwerpunkten und Themen nach, die so groß sind, dass ein Handy sie nicht lädt. Das lässt sich nicht in knappen Bildern fassen, das muss man selbst lesen. Geht es um Unwägbarkeiten? Todesnäheängste? Auf-den-Schlips-Betretenheiten? Einmachzucker? Es bleibt ein „ewiges suchen nach dem einen festen punkt“ (aus „nordnordwest“).

 

Carsten Klook

 

 

Myriam Keil: dezimierung der einmachgläser, horlemann 2013

 

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