1. Juni 2014

Im Zweifel für den Zweifel

 

Das romantische Unkraut

oder Vom Träumen der Architekten

 

Man baut etwas, und es entsteht etwas ganz anderes nebenbei. Etwas, das man gar nicht beabsichtigt hat, gewissermaßen als Unkraut der Handlung. Und wenn jemand erklärt, dieses nebenbei Entstandene sei von großem Wert, versucht man, es beim nächsten Bau bewusst zu erreichen. Aber was passiert, ist, dass man etwas baut und dann wieder etwas anderes entsteht. Als ob Architekten auf der Fährte eines Tieres wären, das sie nie erreichen können. Weil man sich gesetzmäßig nicht an seine Fersen heften kann. Oder wie es die Geschenkkarte vom Kiosk ausdrückt: der Traum ist wie ein Vogel. Wenn man ihn fangen will, fliegt er davon.

Weitab von jenem romantischen Unkraut, das man nicht beeinflussen kann, das sich den Ort, an dem es gedeihen will, selbst aussucht, gibt es natürlich Ziele, die Architekten erreichen können. Aber wollen sie das auch wirklich?

Zum Beispiel die Rendite des Bauherren. Im Vorwege bis zur Kommastelle ausgetüftelt, mit den zu bewirtschaftenden Flächen in Übereinstimmung gebracht, erreichen die Architekten, dass die Investitionsprojekte der Bauherren höchsten Renditeansprüchen genügen. Da die Mittel der Bauherren zur Erlangung ihrer optimalen Flächenausnutzung mitunter nicht von Erpressung zu unterscheiden sind, sind die Architekten glücklich, wenn sie für den Bauherren das Ziel erreichen und sie nicht für irgendwelche Dinge, die im Verlauf des Bauprozesses geschehen sind, verhaftet werden.

Natürlich ist es ein großer Traum der Architekten, überhaupt zu bauen. Das ist nicht selbstverständlich, weil das bauliche Träumen der Architekten niemanden außer Architekten selber interessiert, diese für sich keinen Architekten beauftragen und nur eigenhändig bauen würden, genau einmal im Leben, und weil ihre Konkurrenz in Form von einwandfrei funktionierenden Häusern für jedermann aus der Hand einschlägiger Firmen - für Architekten nichts Geringeres als ein missgestalter Albtraum, für Bauherren aber nichts weniger als ihr neues Zuhause - niemals ruhen wird, als bis alle Grundstücke dieser Erde mit schnell und unkompliziert zu errichtenden Häusle besetzt sein werden. Ein Dilemma. Denn auch unter Architekten herrscht selbstverständlich Konkurrenz um die Möglichkeit zu bauen. Es erhält für gewöhnlich derjenige den Zuschlag, der bei den sogenannten Wettbewerben das größte Talent aufweist, fantastisch anmutende Kinoplakate zu entwerfen, auf denen eine utopische Gesellschaft in schön anzuschauenden Posen das, nur im Hintergrund vorhandene, neue Gebäude dazu nutzt, um interkulturellen, friedenssichernden Aktivitäten zu frönen. Die veranschlagte Rendite des Objektes ist selbstverständlich kein Gegenstand der Darstellung; sie wäre an dieser Stelle ein geradezu unfeines Thema. Bauherren und erwählte Architekten träumen, letztere verordnet, anhand der von den Architekten hervorgerufenen Kinoszenen vom baulichen Shangri-La und man träumt so gemeinsam vor sich hin, bis der Architekt irgendwann aufwacht und nur noch hofft, nicht hinter Gittern zu landen, wenn das Ganze vorbei ist. Komische Welt.

In den heutigen Zeiten hat sich die Gilde der Baumeister in eine sich selbst beschneidende Zwangsecke drängen lassen, die nur durch die Inkaufnahme von weiteren Zwängen verlassen werden kann. Wenn man die Augen schließt, kann man einen kleinen Mann mit einer Planrolle unter dem Arm in der Ecke stehen sehen, ein Architekt von der kenntnisreichen Nadel Albrecht Dürers radiert. Die Mütze schief auf dem Kopf, die Arme dicht am Körper und mit hochgezogenen Schultern, gesteht er: "Es ist mir peinlich, romantisch zu sein."

Aber das muss ihm ja gar nicht peinlich sein. Alle Menschen sind romantisch. Jeder hat irgendetwas, für das er nachts aufbleibt. Man sollte es einfach zugeben und nicht hinterm Berg halten, wenn es sich nicht um Verbrechen handelt.

Die Lösung für das Dilemma der träumenden und unter Einfluss stehenden Architekten ist ebenso einfach wie einleuchtend: Der Architekt muss auch der Bauherr sein. Eine Forderung, für die Frank Lloyd Wright zeitlebens eingetreten ist. Naturgemäß kompromisslos, war dieser sogar so weit gegangen, zu behaupten, an der Spitze der Weltordnung müsse ein Architekt stehen. Womöglich gar Frank Lloyd Wright, aber das ist eine böse Bemerkung. An der Spitze der Weltordnung stehen, war auch für Louis Céline von Bedeutung. In seinen fragwürdigen politischen Manifesten der 30er Jahre behauptete der Schriftsteller und "große Krakeeler", ohne einen ironischen Tonfall anzunehmen, dass an der Spitze der Welt niemand anderes als der Weihnachtsmann stehen solle.

So albern das klingt, so richtig ist doch die Einsicht, dass man sich zur Ehrenrettung der eigenen Kaste durchaus einen gottähnlichen Funktionär wünscht, dem man einen Wunschzettel zukommen lässt, damit die Wünsche in Erfüllung gehen. Denn würde der Architekt, auf welche Weise auch immer, zugleich der Bauherr sein, dann könnten alle träumen und überall würde das romantische Unkraut der außerökonomischen Ziele sprießen. Niemand würde erpresst, niemand müsste fürchten, verhaftet zu werden, niemand beeinflusst, die Rendite würde sich aufgrund der fundamentalen Anziehungskraft der Romantik von allein einstellen. Gewiss doch. Attraktivität ist alles.

Ein paar Arten romantisches Unkraut: die spanische Treppe in Rom, erbaut zum Zwecke der Überwindung eines topografischen Höhenunterschieds, wurde von Millionen von Menschen erkannt, als das, was sie eigentlich ist: die größte gestapelte, öffentliche Sitzbank der Welt.

Die Kölner Domplatte wurde von einem städtebaulichen Nivellierungsinstrument zum langjährigen Centre Court der Skater-Szene deklariert. Zu Recht. Etwas anderes war sie nicht, außer einer hermetischen Betonschwelle ohne städtebauliche Qualitäten, aber mit der Anmutung von totaler Mobilmachung.

Das Opernhaus Sydney wurde in den beinahe 20 Jahren seiner Entstehung vehement bekämpft, der Architekt Utzon vertrieben, ist nun aber Weltkulturerbe und neben dem Känguru das offizielle, allgemeinverständliche piktografische Synonym für einen ganzen Kontinent.

Kann man das aktiv wollen? Ja, eigentlich schon. So weit die Utopie. Unter dem Strich sieht es so aus: Architekten müssen, aber wollen eigentlich gar nicht. Sie wollen auch, aber können das, was sie wollen, eigentlich gar nicht. Seltsam.

Dazu misslungene Romantik: Die Hamburger HafenCity sollte ein lebendiges, malerisches Quartier mit dem Flair von im Wind klappernden Segelbootmasten werden, das, grünflächig und durchmischt, der Stadt neue Lebensimpulse verleihen sollte, die es bisher in dieser maritimen Form nicht gegeben hat. Ungeplanterweise ist sie zum totesten Viertel der ganzen Stadt geworden. Niemand möchte sich nach Feierabend oder am Wochenende dort aufhalten. Das Leben will nicht in die Künstlichkeit kommen. Verordnetes Segelklappern ist kein Segelklappern. Solange dort nicht Leute Tätigkeiten nachgehen, die optische Transformationen mit sich ziehen, wird es so bleiben. Also hin mit den humanen Interventionen, der Raum muss erobert werden.

Der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses soll preußische Bauromantik in eine städtebaulich entscheidende Achse zurückbringen. Er ist längst schon zu einer Mär der modernen Schauerromantik mutiert, die man seinen Kindern erzählen muss, wenn sie fragen, warum die Fassade nichts mit dem Rest des Gebäudes zu tun hat.

Und zuletzt das Gewichtige, das Omnipräsente: Die sogenannten funktionalistischen Ideen. Diese haben in jeder Stadt der Welt Quartiere erschaffen, in denen eine einzige Sache besonders gut funktioniert: Asozialität. Wie schade, dabei war es doch eigentlich das Programm des Funktionalismus, soziale Strukturen baulich zu repräsentieren und die Gesellschaft fähiger zu machen. Aber wie schon Adorno urteilte, die Menschen sind das Problem, nicht die Ideen. Im Übrigen handelt es sich um kein ausschließliches planerisches Konzept der 50er bis vermeintlich 70er Jahre, sondern ist noch immer in Praxis, wenn nicht gerade rein ökonomisches Denken an dessen Stelle getreten ist, was zweifelsfrei ein noch bedenklicherer Ansatz ist.

Gäbe es Geschlossenheit und Ethos unter den Architekten, hätten sie vielleicht noch immer das bauliche Heft in der Hand, stünden nicht in der Ecke, rieben sich eingeschüchtert ihre dickschwarze Corbusier-Brille, sondern geben eben zu, was sie wollen. Pekuniäre Erfüllung hinter dem anstehend, was sie nachts wach bleiben lässt. Vielleicht sollten sie sich für eine entwurfliche Start-Ziel-Strategie des tocotronischen Sprichwortes bedienen, Im Zweifel für den Zweifel, und nur den einfachsten Geometrien huldigen, geduldig ihre Klappe halten und auf das Unkraut warten, das sich auf gedüngten Systemen der Bescheidenheit ansiedeln wird. Das eine machen und dem anderen beim Entstehen zusehen. Warten auf die Emergenz und sie umarmend begrüßen. Das könnte ein Entkommen bedeuten aus dem Dilemma, heute Architekt zu sein. Jedenfalls einer von denen, die tatsächlich noch träumen.

 

Jonis Hartmann