23. Mai 2014

Play Hard – Kultur als Spielhalle

 

Als der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga 1938 seinen Homo Ludens in monografischer Form zur Welt brachte, machte er sich damit nicht nur zum Geburtshelfer der modernen Kulturwissenschaft, sondern etablierte auch eine anthropologische Sichtweise, den Menschen und dessen Kulturfähigkeit zu denken. Nicht Vernunftbegabung (sapiens), Wirtschaftlichkeit (oeconomicus) oder Schaffenskraft (faber) – das Spiel bildete für ihn jenes wesentliche Merkmal sozialer Interaktion und menschlicher Kultürlichkeit: „Ich behaupte nicht, dass die Kultur aus dem Spiel hervorgeht, sondern dass sie in dem Spiel wächst, und außerdem dass sie in manchen Fällen ihren Spielcharakter bewahrt, wo man es nicht erwartet oder sich bewusst ist, kürz wie öfters Spiel und Ernst in der Kultur untrennbar sind oder in einander übergehen.“ (S. 26). Das Spiel ist dabei weniger konkret, als ein abgrenzbarer und von außen her beschreibbarer Teilbereich, sondern vielmehr als eine tool menschlicher Kommunikations-, Interaktions-, und Aushandlungsprozesse gedacht. Es ist eine anthropologische Grundform, die vielfältige Formen annehmen, und nach unterschiedlichen ‚Spielregeln’ konfiguriert werden kann. Nicht nur das ‚eigentliche’ Spiel, auch Technik, Politik, Wirtschaft, Kunst oder Wissenschaft sind für Huizinga von spielerischen Elementen durchdrungen: „Jedes Kulturobjekt, ein Beil, ein Mikroskop, ein philosophischer Begriff, ein musikalischer Akkord [...] ist immer eine Umsetzung im Spiele, eine Fixierung, eine Formgebung“ (S. 19).

 

Der Homo Ludens datiert jedoch etwas weiter zurück und wurde als Modell von Huizinga mehrmals gedanklich durch- und als Testversion vor wissenschaftlichem Publikum vorgespielt, bevor er in seiner abschließenden Fassung in Buchform publiziert wurde. Bereits 1933 hatte Huizinga seinen Prototyp – archaischer wie moderner Gesellschaften – unter dem Titel „Over de grenzen van spel en ernst in de cultuur“ in einer Rektoratsrede an seiner Heimatuniversität Leiden vorgestellt, um dann 1934 mit ihm unter der Überschrift „Das Spielelement der Kultur“ zunächst in Wien und Zürich und 1937 in London auf Tour zu gehen. Es ist diese zweite, gekürzte handschriftliche Manuskriptfassung in deutscher Sprache aus dem Huizinga-Archiv der Universitätsbibliothek Leiden, die nun zusammen mit Repliken und eigenen Theorieansätzen von Georges Bataille, Roger Caillois und Eric Voegelin in einem gemeinsamen Band kulturwissenschaftlicher game theories vom Berliner Verlag Matthes & Seitz veröffentlicht wurde. Als Herausgeber dieses intellektuellen Arcades hat der Medientheoretiker Knut Ebeling sowohl Vor- und Nachwort beigesteuert und in seinen Kommentaren auch auf die gedanklichen Verschiebungen zwischen Vortrag und Buch verwiesen: „Im Vergleich zum ausgearbeiteten Homo Ludens ist die vorliegende Vortragsversion roher und unausgefeilter, aber auch archaischer, tollkühner und »verspielter« – und damit zugleich näher an den Begeisterungen und Euphorien der an Huizinga anschließenden postsurrealistischen Spieltheorien“ (S. 8). Mit gewissermaßen spielerischer Leichtigkeit vermittelt Ebeling in seiner Analyse zwischen den oft divergierenden Ansätzen Huizingas, Batailles, Caillois und Voegelins und präsentiert damit nicht nur den Homo Ludens als eine Art ‚play in progress’, sondern verdeutlicht auch wie die, noch in der Matrix des Surrealismus denkende, französische Nachkriegsintelligenz mit diesem Begriff gespielt hat. Wissenschaft folgt, jedenfalls wenn sie von der Écriture automatique  und nicht den Science Wars her gedacht wird, somit nicht ausschließlich agonal-kämpferischen Mustern, wie Bruno Latour einmal vermutete – sie ist auch Teil akademisch-intellektueller Spielkulturen.

 

Der Band profitiert gerade als Zusammenstellung von den unterschiedlichen Interpretationen und zeigt die Anschlussfähigkeit zu den Theorien Batailles und Caillois’. Obwohl Caillois den überhistorisch-philosophischen Anspruch Huizingas zurückweist, dabei in Frage stellt, ob „das Spiel wirklich etwas Einheitliches“ (S. 61) ist, und in Spiel und Heiligem, anders als sein niederländischer Mitspieler vollkommene Gegensätze erkennt, sind seine Ausführungen anschlussfähig. Bataille wiederum knüpft das Spiel an seinen Begriff der Souveränität, stellt dem Spiel nicht den Ernst als Antipode gegenüber, sondern kontrastiert das play element mit Hegels Begriff der Arbeit. Während der arbeitende und unterworfene Knecht aus der Phänomenologie des Geistes zur Ikone des eines Homo Fabers wird, nimmt der Herr in Batailles Vorstellung nunmehr die Rolle des souveränen Spielers ein, und wird als hegelianischer Homo Ludens auf dem Spielfeld der Geschichte eingewechselt. Im Unterschied zu Huizinga, der das Spiel als ordnendes Prinzip beschreibt, betont Bataille hingegen das Moment des Chaos: „Ich habe gezeigt, dass daraus nicht folgt, wie Huizinga möchte, dass die Regel das wesentliche Attribut des Spiels ist: das Spiel, scheint mir, ist eine begrenzte Unordnung“ (S. 89). Einen gemeinsamen Konvergenzpunkt finden Huizinga, Bataille und Caillois in Marcel Mauss’ Essai sur le don, das im Potlatsch-Ritual nordamerikanischer Ureinwohner Wettstreit, Tausch, Schenkung, sakrale Ökonomie und eben Spiel miteinander verbindet.

 

Gerade die mögliche Verbindung von Spiel und Ökonomie – von Ebeling mit dem emblematischen Begriff des „Kasino-Kapitalismus“ (S. 132) markiert – überträgt den Homo Ludens in unsere unmittelbare Gegenwart: War die internationale Finanzkrise mit ihren gigantischen Fehlspekulationen möglicherweise nicht Katastrophe, sondern Bestandteil eines glücksspielerischen Kalküls, das alles auf eine Karte setzt? Stehen Wall-Street und one-armed-bandit vielleicht näher beieinander, als dies unserer auf Rationalität ausgerichteten Gesellschaft lieb wäre. Und wenn ja, sind diese Spiele dann durch Unordnung strukturiert, oder ist die Pleite etwa geplantes Element eines ordnenden Regelwerks? Potlatsch statt Gewinnmaximierung und Homo Ludens statt Homo Oeconomicus? Identifiziert man die Investmentbanker schließlich noch mit dem zum hegelschen Herrn aufgestiegenen souveränen Spieler, wie Bataille dies nahelegt, beginnen die Dinge endgültig ins Strudeln zu geraten: Aus dem Ende der Geschichte wird ein Beginn des Spiels mit ungewissem Ausgang, verdeckten oder gezinkten Karten und unklaren Regeln. Zweifellos, und Ebeling macht dies sehr deutlich, ist dieser Perspektivwechsel ebenso naheliegend, wie riskant.

 

Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit vom Homo Ludens zu sprechen: Als anthropologische Figur ist der spielende Mensch ein dezidiert offenes Konzept und lässt sich auf nicht-menschliche Akteure erweitern. Vom IBM-Schachcomputer „Deep Blue“ bis zur Atari-Konsole im Kinderzimmer oder den multi-zentrisch und global vernetzen Kollektiven aktueller Internet-Rollenspiele reichen die Verbindungslinien, in denen Mensch und Technologie bzw. ‚natürliche’ und ‚künstliche’ Intelligenz ineinandergreifen und miteinander spielen. Im frühen Operations Research der militärischen Bodenluftverteidigung am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach, als einem ersten Feld der game theory, scheinen Radarabwehr und Raketen bzw. scheint Technologie gar ganz mit sich selbst zu ‚spielen’ und den zum ‚Faktor’ degradierten Menschen vollständig ausgeschlossen zu haben. Der Homo Ludens ist damit, trotz seines mittlerweile hohen Alters von 81 Jahren, ein immer noch anknüpfungsfähiges Modell, um diese anthropologische Verschiebung denken zu können. Er erfüllt sowohl die Cyborg-Postulate Donna Haraways, wie auch jene auf die Welt der Dinge ausgeweitete Soziologie der Actor-Network-Theory Bruno Latours. Die Spielfähigkeit ist nicht auf den Menschen begrenzt und kann von ihm nicht exklusiv in Anspruch genommen werden. Das Spiel ist dabei meist mehr als reiner Spaß und die von Huizinga in den Blick genommen „grenzen van spel en ernst“ verschwimmen in einer Welt, in der die Gleichung „work hard, play hard“ immer mehr Gültigkeit für sich zu beanspruchen vermag zunehmend. Diese Überschneidungen verweisen auf gemeinsame Logiken und Austauschbeziehungen zwischen Spiel und Arbeitswelt, und geben Anlass dazu, die alte Binsenweisheit „Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen“ möglicherweise neu zu überdenken.

Patrick Kilian

 

 

Johan Huizinga: Das Spielelement der Kultur. Spieltheorien nach Johan Huizinga von Georges Bataille, Roger Caillois und Eric Voegelin. Herausgegeben und mit einem Vor-  sowie einem Nachwort von Knut Ebeling, Berlin 2014 (Matthes & Seitz Berlin).

 

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Weiterführende Literatur:

Georges Bataille: Die innere Erfahrung. Atheologische Summe I, München 1999.

 

Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt/Berlin/Wien 1982.

 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (=Theorie-Werkausgabe, Bd. 3), Frankfurt/M 1970.

 

Donna Haraway: Manifesto for Cyborgs, in: Socialist Review 80 (1985), S. 65-108.

 

Johan Huizinga: Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur, Amsterdam 1939 (Orig.: Homo Ludens. Proeve eener bepaling van hat spel-element der cultuur, Haarlem 1938).

 

Horst Lademacher: Johan Huizinga (1872-1945), in: Heinz Duchhardt (Hg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, Bd. 1, Göttingen 2006, S. 179-213.

 

Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005.

 

Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M 1990.