Zug um Zug
„Immer derselbe Mist!“, fluchte die stämmige Frau neben Glogowski.
Er lächelte zustimmend, und beide schauten fast gleichzeitig zur Anzeigetafel hinauf. Der ICE nach München hatte jetzt bereits zweiundzwanzig Minuten Verspätung. Ursprünglich sollten es zehn Minuten sein, dann erhöhte man auf zwanzig, und gerade kam die Durchsage, dass sich die Ankunft in Bremen um satte fünfundvierzig Minuten verschieben sollte.
Der Bahnsteig füllte sich immer mehr. Glogowski blickte in unzählige missmutige und ungeduldige Gesichter. Dazu wehte ein eisiger Wind, da sie auf Gleis zehn, also im Außenbereich des Bahnhofs warten mussten.
Zwei ältere Männer zu seiner Rechten unterhielten sich lautstark und lachten dabei des Öfteren – nahmen es anscheinend mit Humor. Erneut eine Durchsage: ICE 1139 NACH MÜNCHEN; ANKUNFT SIEBZEHN UHR EINUNDZWANZIG, VERZÖGERT SICH AUFGRUND EINES PERSONENUNFALLS UM CA. FÜNFZIG MINUTEN, VORAUSSICHTLICHE ANKUNFT IN BREMEN SIEBZEHN UHR NEUN, umgehend korrigierte sich die Anzeigetafel.
PERSONENSCHADEN – Glogowski wusste, dass dies nur die Umschreibung für Schienensuizid war. Geschah in letzter Zeit immer häufiger. Na ja, ist ja wohl auch eine sichere Sache, um abzutreten, dachte er.
Lässig behielt Glogowski seine leichte Aktentasche in der Hand. Die meisten übrigen Reisenden hatten ihr Gepäck schon lange auf den Bahnsteig gestellt und standen dämlich daneben, aßen etwas, streichelten ihre Tablets und iPhones und blickten sauertöpfisch – was für ein Wort, dachte er – drein. Glogowski trug wieder einmal seine besten Sachen, einen schwarzen Anzug, seine schwarzen Lederschuhe und seinen Wintermantel. Die Haare hatte er diesmal linksgescheitelt. Die Frau neben ihm sprach jetzt in ihr Handy: „Ja, schon wieder Verspätung, das dritte Mal diesen Monat, aber wir treffen uns trotzdem bei Maja, ich stoß dann zu euch …“ Glogowski wollte nicht länger zuhören und ging den Bahnsteig ein wenig auf und ab. Die Sonne kam heraus, er blieb stehen, hielt sein Gesicht hinein, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Bahnhofs. Ein Kind kreischte und heulte darauf. Glogowski öffnete die Augen. Die Mutter ermahnte es, doch das Kind schrie noch lauter. Darauf drückte ihm die Mutter etwas in die Hand, einen Keks oder ein iPhone; Glogowski konnte es aus der Entfernung nicht richtig erkennen.
Ein Mann neben ihm schnaubte geräuschvoll in sein Taschentuch.
„Schon das dritte Mal diesen Monat“, bemerkte Glogowski sich ihm zuwendend.
„Bitte?“, fragte dieser.
„Das dritte Mal diesen Monat … vorgestern in Frankfurt musste ich fast zwei Stunden warten wegen einer defekten Oberleitung.“
„Ja, schlimm so was.“
„Ja, ist man von der Bahn ja nicht anders gewöhnt.“
„Ja, ja“, grummelte der Mann und schwieg darauf. Glogowski verstummte auch, blieb noch eine Weile schweigend neben dem Mann stehen und schlenderte dann wieder den Bahnsteig entlang. Er stellte sich neben eine hübsche Frau um die Dreißig.
„Müssen Sie auch nach München?“, fragte Glogowski.
Die Frau betrachtete ihn skeptisch, nickte aber knapp.
„Hoffentlich wird’s nicht noch später“, sagte Glogowski lächelnd.
Die Frau lächelte falsch zurück, nickte noch knapper und nahm dann dezent Abstand von ihm.
AN GLEIS ZEHN: ICE 1139 NACH MÜNCHEN; VORSICHT BEI DER EINFAHRT.
Der Zug fuhr ein. Ungeduldig warteten die Insassen darauf, die automatisch verriegelten Türen zu öffnen, um herauszukommen, während draußen die Reisenden ungeduldig darauf warteten hineinzukommen. Unzufriedene, zerknautschte Gesichter auf beiden Seiten. Glogowski hielt sich jetzt abseits und beobachtete das Treiben. Die Frau, die ihm eben noch knapp zugenickt hatte, zwängte sich mit ihrem sperrigen Koffer als eine der Ersten in den ICE. Glogowski verließ das Gleis und kurz darauf den Bahnhof. Vorm Gebäude nahm er die gerade eintreffende Straßenbahn und fuhr schwarz die fünf Stationen nach Hause.
Seine kleine Einzimmerwohnung war schlecht gelüftet, er hatte vorhin vergessen, das Fenster zu öffnen. Ihm war, als rieche es in der Wohnung nach altem Mann – Glogowski war aber erst siebenundfünfzig. Er öffnete das Fenster und schaute nach unten. Türkische Kinder stritten um etwas. Nach einer Weile schloss er das Fenster wieder, zog sich aus, verstaute seinen Anzug, die Schuhe und die leere Aktentasche sorgsam im Schrank, schlüpfte darauf in seinen abgetragenen Trainingsanzug und legte sich aufs Bett. Er blickte auf das Bild seiner Frau auf dem Nachttisch – ihm wurde schwermütig, wie jedes Mal, wenn er das Bild betrachtete. Er schloss die Augen. Draußen schrien die Kinder in einer Sprache, die er nicht verstand.
Heute war er etwas später dran als sonst. Er war wieder unter Menschen. Hatte er zu Hause noch das Fenster geöffnet, bevor er gegangen war? Hoffentlich. Er sah auf die Anzeigetafel in der Bahnhofshalle. Der IC 2032 nach Leipzig auf Gleis vier hatte etwa dreißig Minuten Verspätung. Er begab sich mit der leeren Aktentasche in der Hand auf Gleis vier.
Jörn Birkholz
Jörn Birkholz, geboren 1972, lebt in Bremen. Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Uni Bremen. Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften (u. a. erostepost, Sterz, Lichtungen).
Sein Romanerstling „Deplatziert“ erschien 2009 und befindet sich mittlerweile in dritter Auflage. Sein neuer Roman „Schachbretttage“ erschien am 10. März 2014 bei Folio.