2. Januar 2004

Superschnelles Altern im späten 19. Jahrhundert

 

Das schöne Mittelalter wusste noch, dass man sich um Frauen bemühen muss. Und dass es für beide Seiten besser ist, wenn der Ritter die meiste Zeit auf Reisen ist. In dem Moment, wo der moderne Mann den Geldschein neben die Nachttischlampe legt, ist die Verachtung da. Unwahrscheinlich, dass sich die jeweiligen Interessen decken werden. Geld, Mann und die Frau als Prostituierte gehen ein in die allgemeine Zirkulation. Der Mann versucht, durch mehr und mehr Geld die eine Prostituierte, die ihm gefällt, enger, am besten einzigartig, an sich zu binden. Diese schröpft ihn, bis er merkt, dass diese moderne Art des Liebesdienstes, der die Seite gewechselt hat und für den Mann als Ritter nichts mehr übrig lässt, nicht mit Liebe zu verwechseln ist. Die Frau geht über zum nächsten, an dem sie schon arbeitet.

Das ist die Grundkonstellation von „Nana“, Zolas Roman aus der Pariser Halbwelt. Eigentlich keine sehr experimentelle Versuchsanordnung. Und doch gibt es da etwas, das es unmöglich macht, dass der Roman so noch heute sich abspielen könnte. Er ist noch verstrickt in die romantische Vergötterung der Frau, allerdings ganz ohne romantische Ironie. Er scheint einen Rest an Fatalität anzubieten, wodurch das sich immer stärker positivierende 19. Jahrhundert einen Schauplatz fände für Unzurechenbarkeiten, die aber nach Zolas Vorstellungen nicht weniger vorausschaubar wären wie die Anordnungen eines Experiments. Deshalb ist dieses Buch auch weniger ein soziales Sittengemälde, das sich streng an Milieutheorie hielte, oder ein leidenschaftlicher Aufruf gegen die Unterdrückung der Frau als Prostituierte mit der Hauptfigur Nana als Märtyrerin oder schließlich ein Roman, der den allgemeinen Verfall einer Zeit beschriebe, als einfach nur – Literatur.

Der bekannteste Frauentypus des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht nur in der Literatur ist der der femme fatale. Von den Gemälden schauen sie uns als Vampire an oder beißen schon kräftig zu, die Männer sind die Wichte, die, einmal vom rechten Wege abgekommen, nicht mehr ins bürgerliche oder sonstige Gleis zurückfinden. Sie haben den Virus. Die Frau als Virus. Aber natürlich nicht die Frau schlechthin, sondern eben ein bestimmter Typ, und der ist dann die Frau. Nana hat weiße Haut, natürlich rote Haare, der Zeitgeschmack will sie füllig, breithüftig, und vor allem besitzt sie diesen Geruch, der die Männer gnadenlos einnebelt. Die besondere Zola’sche Note ist damit aber noch nicht gesetzt. Dem fatalen Rasseweib wird noch ein bisschen mehr aufgehalst. Nana ist keine Edelhure, auch wenn sie später so lebt, sondern ist aufgrund ihrer Herkunft aus kleinen, schmutzigen Verhältnissen mit einem bakteriologischen Stigma behaftet, dem die Männer, die einmal damit in Berührung gekommen sind, nichts entgegenzusetzen haben.

Das gilt vor allem für die Exemplare aus der Finanzwelt und dem besitzstarken Adel. Zola, der das Halbwelt-Milieu, das er schildert, nicht aus erster Hand kannte, spielt seiner Figur Nana die Rolle der biologischen Volkszersetzung zu. An etwas muss Frankreich ja zugrunde gegangen sein, wenn es schon nicht die Deutschen 1870/71 waren. Nana ist der Schlund, in dem Frankreich seine Reichtümer verprasst. Die „blonde Venus“, die sich nackt spielt, zieht den Männern die Hosen aus. Und niemand kann sich retten, ob reich oder arm, ob alt oder jung. Und das wollen und können wir heute nicht mehr verstehen. Denn wir suchen nur den Superstar, der Nana als Ereignis war. Freilich auch nur als Literaturereignis. Und darum scheint es zuletzt zu gehen, die virale Struktur in das avancierteste Medium zu übertragen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Emile Zola, Nana</typohead>