2. Februar 2014

Plötzlich diese Schwäche

 

Die einen werden sagen: Was gehen mich die Haare einer Frau an, die schon lange tot ist. Andere, die Filme Mary Pickfords (1892-1979) kennen, werden dieses schmale Buch einer ausgiebigen Lektüre unterziehen. Wieder andere, zu denen ich zähle, die wohl noch nie bewusst einen Film dieser amerikanischen Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin gesehen haben, werden ihren Namen im Sinn behalten und darauf achten, den nächsten Pickford-Film, der in einem Filmmuseum oder dergleichen oder im Fernsehen läuft, nachdem man schon einmal bei youtube sich schlau gemacht hat, unbedingt anzuschauen.

Gleichwohl bleiben natürlich Fragen auch bei einer schnellen Lektüre. Warum z.B. erhält Mary Pickford einen Oscar, nachdem sie sich von dem Markenzeichen getrennt hat, das sie offensichtlich so unverwechselbar gemacht hat (obwohl oder gerade weil diese Langhaarfrisur schon länger démodé war)? 1928 fallen ihre Haare, ein Bob ensteht, 1929 erhält sie den Oscar. Wie konnte das noch geschehen? Ein Betriebsunfall? Oder waren die Haare dann doch nicht so wichtig, sondern eher eine überragende schauspielerische Leistung der Pickford? Davon wüsste man gerne ein wenig mehr zu erfahren, Kritiken, Feuilletons der Zeit. Ripplingers These ist, dass die Pickford eine Art Syndrom verkörperte (international, auch in Frankreich, Deutschland, der Sowjetunion), und die (durchaus auch künstlichen) Locken waren das Schibboleth, das die Schauspielerin von anderen Actricen trennte. In dem Moment, wo das Erkennungsmerkmal entfällt, wird alles anders. Ripplinger erwähnt die vielleicht bekanntesten Haarkürzungen der Kulturgeschichte: Samson und Rapunzel. Das scheinbare Detail lädt eine Figur auf. Ein Kraftwerk entsteht. Ohne dieses entscheidende Detail entfällt der Unterschied, der einen Unterschied macht. Als sie 36 ist, lässt sie sich – und alle schauen mit – die Haare schneiden. Man weiß, dass sie eigentlich zu alt ist, die Kindfrau zu spielen. Und doch ist am Selbstbetrug das Kino noch nie zugrunde gegangen. Aber um 1928 entsteht noch etwas anderes: Der Tonfilm. Hatte es damit zutun? Auch da hätte man noch gerne etwas mehr erfahren. Über die Stimme der Pickford, ihr Verhältnis zum Tonfilm, von dem manche ja das Ende (mal wieder) der Metaphysik ableiteten.

Ripplinger beschäftigt sich in seiner Publikation mit ein paar anderen Dingen, die auch interessant sind, oder besser, werden können, wenn der Leser ein bisschen mehr Anschauungsmaterial in Sachen Pickford gesammelt hat. Dann wird man dieses Büchlein noch einmal zu Rate ziehen. Man muss ja sowieso alles zweimal lesen.

Dieter Wenk (1-14)

Stefan Ripplinger: Mary Pickfords Locken. Eine Etüde über Bindung, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag), Filit 11

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon