2. Februar 2014

Eiswürfel im Think Tank

 

Im Zeichen der A- und H-Bombe musste der Krieg nach 1945 neu gedacht werden. Carl von Clausewitz’ Vom Kriege (1832–1834) wurde 1960 durch Herman Kahns monumentales Werk On Thermonuclear War überschrieben, und die einstig heißblütigen Feldherren verwandelten sich in kühle Analysten: „Within the framework of Cold War rationality, the hotheaded cowboys became cold-blooded calculators, intelligent, implacable and symmetric” (S. 6). Vor dem Hintergrund errechen- und kalkulierbarer first- und second strike-Möglichkeiten war es eine Bedingung dieses Krieges, ein Teil seiner spezifischen Rationalität, nie ausbrechen zu dürfen. Die Temperatur bzw. das Klima des Kalten Krieges bestimmte sich damit nicht nur aus dem Fehlen eines ‚heißen’, thermo-nuklearen Krieges (obwohl es an blutigen Stellvertreterkriegen an der Peripherie der Blockgrenzen nicht mangeln sollte), sondern auch aus einer bestimmten Form des kühlen, ja unterkühlt-kaltblütigen Denkens heraus. Das Autoren-Team um Paul Erickson, Judy L. Klein, Lorraine Daston, Rebecca Lemov, Thomas Sturm und Michael D. Gordin hat für diese intellektuelle Frostperiode den Begriff der „Cold War Rationality“ entwickelt. Rationalität statt Vernunft, Berechung statt Menschenverstand und Statistik statt Erfahrung lauteten die Leitprinzipien dieses Konflikts, dessen absurden Auswüchse bereits 1964 in Stanley Kubricks filmischem Meisterwerk Dr. Seltsam: oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben glänzend porträtiert und schonungslos parodiert wurden. Eben dieser Film bildet den Ausgangspunkt für das Buch How Reason Almost Lost Its Mind, das im Anschluss an den 2010 im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zu Berlin durchgeführten Workshop „The Strangelovian Sciences“ entstand. Im Vorwort beschreiben die Autoren das Buchprojekt als Ergebnis eines sechswöchigen gemeinsamen Diskussions-, Schreib- und Denkprozesses im Sommer 2010. Damit vollzieht dieses wissenschaftshistorische Forschungscamp in gewisser Weise die Geste der Cold War Think Tanks nach, ist selbst eine Art Denkfabrik und nähert sich seinem Gegenstand auch experimentell in Gestalt der Organisation des Arbeitens und Denkens an. Folgerichtig beginnt das Buch schließlich auch mit jenem „silent club“ (S. 10 f.), jener neuen Kriegsstrategen, die weit abseits der Frontlinien und Kampfzonen über den Krieg nachdachten und sich im kalifornischen Santa Monica in den Räumen der RAND Corporation zusammenfanden, die zur einflussreichsten Denkfabrik der USA aufsteigen sollte. Hier bildete sich der state of mind des Kalten Krieges heraus, der die Vernunft fast um den Verstand gebracht und die Welt damit an den Abgrund gestürzt hätte.

 

Im Umfeld der Think Tanks, aber nicht nur dort, sondern auch in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft entwickelte sich bereits in den Anfangstagen des Kalten Krieges eine neue Form der Rationalität, deren vorrangigstes Ziel es war, den menschlichen Faktor – seine Emotionen, Persönlichkeit und Irrtumsneigung – aus den militärischen Entscheidungsprozessen auszuschließen. Stattdessen sollten rechnerbasierte Algorithmen, Statistiken und Wahrscheinlichkeitsverteilungen die Arbeit der Militärstrategen übernehmen und den Atompoker gegen Russland anleiten, der nunmehr weniger geführt als vielmehr mathematisch gerechnet wurde. Erfahrung musste vor der unschlagbaren Evidenz der Megatonnen und nur mehr virtuell simulierbaren Szenarien kapitulieren. Die Muster dieses Konflikts – der ideologische Systemantagonismus, die nukleare overkill-capacity einer mutually-assured-destruction – übertrugen sich in nahezu alle akademischen Disziplinen, bildeten dort Surrogate, die ihrerseits wieder auf die Logik des Kalten Krieges rückprojiziert wurden und zwischen Wissenschaft, Militär- und Verteidigungspolitik hin und her zirkulierten. Die Bedrohungskulisse des atomar geführten Rüstungswettstreits zwischen den USA und der Sowjetunion bildete hierbei den Konfigurationsraum für diese Austausch- und Hybridisierungsprozesse: „people, ideas, disciplines, methods, and institutions that dwelled apart both before and after the Cold War briefly came together“ (S. 184) – und das unter hohem Druck, „under high pressure“ (ebd.), wie die Autoren bekräftigend hinzufügen. Politikwissenschaft, Ökonomie, Soziologie, Psychologie und Anthropologie waren von diesen Konvergenzbewegungen ebenso ergriffen wie Mathematik, Statistik, Biologie, Philosophie und Computerwissenschaft (vgl. S. 3). Am Beispiel ausgewählter Theorie- und Modellbildungen verfolgt diese Studie die Genealogie der „Cold War Rationality“ sprunghaft, unter anderem durch die Beavioral Sciences, die Soziobiologie, das operations research, John von Neumanns Spieltheorie oder das Gefangendilemma hindurch. Ihre Ordnungsmuster werden dabei zwischen bzw. quer zu den einzelnen Disziplinen verortet.

 

Elemente der kybernetisch organisierten Luftabwehr wurden ebenso mit der Antagonismus-Logik des Systemdualismus kurzgeschlossen und auf die Steuerung gesamter Gesellschaften übertragen wie Darwins kriegerisch interpretierter „struggle for existence“ (vgl. S. 149), das kompetitiv-kooperative Nullsummenspiel (vgl. S. 139), epidemiologische Modelle oder neue Konzepte aus Verhaltensforschung und Gruppeninteraktion (vgl. S. 119), deren Ergebnisse erneut auf die Luftaberwehr zurückübertragen wurden. In diesem Kreislauf, der auf keinen definiten Anfang zu verweisen scheint, sondern sich in der wechselseitigen Beeinflussung seiner in Interaktion stehenden Elemente herausgebildet hat, gerät die Vernunft aus den Augen. Eindrücklich zeigen Erickson, Klein, Daston, Lemov, Sturm und Gordin, dass Rationalität Unvernunft nicht ausschließt, sie vielleicht sogar selbst mit produziert hat: „You could be unreasonable without being irrational” (S. 7). Dr. Seltsam stellt die idealtypische Ikone dieser Ambivalenz dar – seine alles zerstörende Doomsday-Machine ist hierbei Sinnbild einer dem Wahnsinn verfallenen Rationalität. Ziel dieses kollektiven Wachtraums des kriegerischen Rationalitätswahnsinns war es letztlich, den Menschen als Entscheidungsträger vollständig auszuklammern und die Urteilsmacht in die Hände von Computern zu übergeben – „good reasoning has to follow formal algorithms that optimize results and can be applied mechanically” (S. 177). Paradoxerweise war dies die scheinbar logische (also aus Sicht ihrer Befürworter) Konsequenz eines Diskurses, der „calculation“ als eine durch und durch „mindless exercise“ (S. 43) interpretierte, die  allerdings gerade deswegen auch keine menschlichen Fehler begehen konnte. Weil der Computer gewissermaßen nicht in der Lage war, das Ausmaß und den Schrecken des bis zur Ohnmacht hochgerüsteten Weltkonflikts zu sehen bzw. zu verstehen, schien er in geradezu idealer Weise dazu geeignet, diesen Stellungskampf mit der stoischen Ruhe eines Schachcomputers als Strategiespiel zu spielen.

 

How Reason Almost Lost Its Mind ist eine vielschichtige Studie, die einen aufgefächerten Blick in den schwer durchdringbaren Kosmos der Rationalität und Denkstrukturen des Kalten Krieges präsentiert. Das Buch zeigt, dass Denken nicht in einem luftleeren Raum entsteht und vor dem Hintergrund seiner geschichtlichen Entstehungsbedingungen historisiert werden muss: „The ideas, methods, and practices that constitute the fragments have genealogies; they can and should be traced” (S. 188). Wissen und Wissenschaft sind Teil kultureller, politischer und in diesem Fall auch kriegerischer Möglichkeitsbedingungen und Diskursräume und können nicht losgelöst von diesen beschrieben und reflektiert werden. Gerade weil viele der im Kalten Krieg formatierten Theoriemuster zumindest in Fragmenten bis in unsere Gegenwart hinein weiter verlängert wurden, bildet dieses Buch auch einen wichtigen Beitrag zur Standortbestimmung unserer aktuellen Gesellschaft. Es profitiert von den unterschiedlichen Perspektiven seiner Autoren, die methodisch zwischen intellectual history, science studies, Wissenschafts- und Wissensgeschichte stehen und mit ihrem close reading der intellektuellen Praktiken während des Kalten Krieges aufzeigen, dass die Spuren, die dieser Konflikt im Denken seiner Zeit hinterlassen hat, sich nicht auf die staatliche Finanzierung militärisch relevanter Forschungsprojekte reduzieren lassen, sondern bis in die Theorien, Statistiken, Lochkarten und Computeralgorithmen hineinreichen und dort materialisiert wurden.

 

Die Think Tanks, die für die Zeit des Kalten Krieges treffender mit Denkpanzer anstatt Denkfabrik zu übersetzen wären, haben heute mit den zahlreichen Unternehmensberatungen ein privatwirtschaftliches Alter-Ego erhalten, das, obgleich anderen Logiken verpflichtet, den Gestus eines „silent club“ geerbt und beibehalten hat. Wenn diese neuen, auf ökonomische Rationalität gepolten Tanks auch nicht von den Eiswürfeln das Kalten Krieges gekühlt werden, so gibt How Reason Almost Lost Its Mind zumindest Anlass dazu, darüber nachzudenken, welche Formen der „rationality“ unsere intellektuelle Welt heute durchdringen, wo ihre Ausläufer überall hinführen und welches Feld sie umspannen.

 

Patrick Kilian

  

Paul Erickson / Judy L. Klein / Lorraine Daston / Rebecca Lemov / Thomas Sturm / Michael D. Gordin: How Reason Almost Lost Its Mind. The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago / London: The University of Chicago Press 2013, 272 S., gebunden

 

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