28. Januar 2014

Vertrieben aus dem Paradies

 

»… dann wurden wir erst mal zur Hygiene geschickt. Zu dem Waschgebäude kam man, also man musste erst mal über einen großen Hof laufen, und da drauf, also auf dem Hof, da war, da stand so eine riesige Eiche, und ich hatte das Gefühl, die gehört da überhaupt nicht hin, warum steht hier diese riesengroße Eiche? … Aber dann war da auch schon der Eingang, und nein, bevor man reinging, musste man draußen noch die Sachen abgeben, aber ich hatte ja so gut wie nichts bei mir, nur was ich so anhatte und meine Brosche und mein kleines Köfferchen, da drinnen mussten wir uns dann komplett ausziehen, ich stand da mit noch fünf oder sechs andern Mädchen, wir mussten erst mal warten, die eine war schwanger, glaub ich, und blutete aus der Nase, dann wurden wir gesäubert, also gewaschen, mein ich …«

Ich klicke auf Stopp, markiere einzelne Textpassagen, stelle sie um und lösche einiges. Ich nehme die Kopfhörer ab und massiere meine Schläfe. Ich habe Kopfschmerzen, diese verdammte Luft hier macht einen stumpf. Draußen scheint die Sonne, das verrät mir der Blick durchs Fenster, und die Bäume wiegen sich im Wind. Draußen wäre es jetzt schön. Ich setze die Kopfhörer wieder auf. Ich lausche, markiere noch mal und lösche noch ein ganzes Stück. Seit vier Stunden lausche, markiere und lösche ich. Ich klicke wieder auf Start.

»Wir wurden zur Hygiene geschickt … Da mussten wir uns ausziehen … und dann wurden wir gesäubert.«

Ich schwitze, ich hätte auch Lust, mich zu säubern. Draußen spielen Kindergartenkinder »Deutschland sucht den Superstar« oder »Popstars« nach. Sechs in einer Reihe tanzen voller Elan, ein siebtes gibt Anweisungen. Die Bäume wiegen sich im Wind. Die Sonne scheint.

»Na, wie kommst du voran?«, fragt mich Hartmut, der plötzlich neben mir steht. Dieser Mensch mit seinen ein Meter dreiundsechzig kommt immer wie eine Katze angeschlichen. Plötzlich steht er vor einem. Gut, dass ich gerade nicht im Internet surfe oder dabei erwischt werde, wie ich draußen auf die Kinder starre. Auf Heranwachsende zu starren ist heutzutage nicht ganz unumstritten. Vor Kurzem rauchte ich draußen eine, als die Kinder Pause hatten. Ich schaute ihnen interessiert beim Spielen zu. Wahrscheinlich zu interessiert. Nachdem mich irgendwann die beiden Kindergärtnerinnen mit skeptischen Blicken tuschelnd aufs Korn genommen hatten und mich zusätzlich ein halbes Dutzend vorbeilaufender Passanten begafft hatten, gab ich das Rauchen draußen auf und ging zum Quarzen wieder in die stickige Küche. Warum mussten sie dieses dämliche Archiv auch direkt neben einem Kindergarten einrichten?

»Ich bin noch am straffen«, antworte ich den Kopfhörer abnehmend.

»Kann ich trotzdem mal hören?«

Er zieht sich einen Stuhl heran. Ich registriere seinen Kaffeeatem.

»Wieso nicht.«

Ich fahre die Lautstärke höher und klicke auf Start.

»Wir wurden zur Hygiene geschickt … Da mussten wir uns ausziehen … und dann wurden wir gesäubert.«

»Aber was ist mit der Brosche?!«

»Was?«

»Die Brosche! Die hast du ja rausgenommen!«

»Ja und, das Ganze sollte doch gekürzt werden?«

»Aber doch nicht die Brosche

»Pro Schicksal eine Minute, so war die Vorgabe.«

»Also, wie du das sagst, klingt das irgendwie taktlos.«

»Was heißt hier taktlos? Du wolltest es so haben.«

»Ja, schon, aber trotzdem.«

»Wie trotzdem, ich sollte aus acht Stunden Interviewmaterial eine Minute Text zusammenzimmern, so war die Vorgabe, daran halte ich mich.«

»Ja, aber die Brosche ist doch wichtig! Diese Frau Abel wurde aus ihrem schlesischen Dorf vertrieben, die russische Front hatte ja schon fast alles überrollt, und sie konnte ja kaum etwas mitnehmen, und diese Brosche war das Einzige, was für sie von Wert war – von emotionalen Wert, verstehst du?«

»Ich bin ja nicht geisteskrank.«

Hartmut riecht nach Schweiß, ich wahrscheinlich auch.

»Diese Brosche war ein Geschenk ihrer Großmutter gewesen – Weißt du, ich hab das Gefühl, du kannst dich da gar nicht richtig reinversetzen, emotional, mein’ ich.«

»Ich habe seit einer Woche nur die jaulende, selbstgefällige Stimme einer alten Frau im Ohr … und ich sag’s noch mal: acht Stunden Material, zusammengeschrumpft auf eine Minute! Jetzt noch einen auf Betroffenheit zu machen, tut mir leid, das ist nicht drin … Dazu weiß ich ja nicht mal, wie sie aussieht, und das lässt kaum Empathie aufkommen.«

»Ja, mag sein, dass du das nicht weißt, aber kannst du dir wenigstens vorstellen, was Frau Abel damals alles durchmachen musste.«

»Da war sie wohl nicht die Einzige. Es gab damals auch so ’n paar Leute mit ’nem Stern auf der Brust, die hatten auch schon entspanntere Zeiten gehabt.«

»Ja, aber das ist doch ’n ganzes anderes Thema, und das weiß man mittlerweile ja auch alles.«

»Schon, aber es ist vielleicht irgendwie prägender, wenn beispielsweise der Säugling einer jüdischen Mutti vor ihren Augen zerrissen wird, während man auf ihrem Kopf rumtrampelt, als vom Iwan aus der Wohngegend geworfen zu werden.«

»Darum geht’s doch gar nicht! Aber diese Vertriebenenschicksale wurden bisher noch gar nicht richtig aufgearbeitet!«

»Ich bin doch grad dabei.«

»Ja, aber so euphorielos.«

»Euphorielos!?«

»Ja, wenn du dich da nicht reinversetzen kannst, dann …«

»Man kann sich weder in das eine noch in das andere reinversetzen, das zu behaupten, wäre sowieso geheuchelt – man kann höchstens versuchen zu verstehen.«

»Ja, das tust du aber nicht!«

»Wenn du’s sagst … dafür mach ich aber meinen Job.«

Genervt klicke ich nochmals auf den Originaltext, um für einen Moment von seinen Vorhaltungen verschont zu bleiben:

»… dann wurden wir erst mal zur Hygiene geschickt. Zu dem Waschgebäude kam man, also man musste erst mal über einen großen Hof laufen, und da drauf, also auf dem Hof, da war, da stand so eine riesige Eiche, und ich hatte das Gefühl, die gehört da überhaupt nicht hin, warum steht hier diese riesengroße Eiche? … Aber dann war da auch schon der Eingang …«

Ich klicke auf Stopp.

»Was ist mit der Eiche?«, frage ich bockig.

»Was soll damit sein?«

»Na ja, sie benimmt sich, als hätte sie noch nie einen Baum auf einem Hinterhof gesehen. Soll das auch noch rein?«

»Wozu?«

»Also nicht. Und die blutende Schwangere?«

»Was?«

Ich spiele die Stelle ab:

»... die eine war schwanger, glaub ich, und blutete aus der Nase …«

»Unwichtig!«, zischt Hartmut.

»Wie du meinst?«

»Aber, die Brosche bleibt drin!«

»Die Lady soll ihre scheiß Brosche haben.«

Gereizt füge ich schnell die gewünschte Textpassage wieder ein. Hartmut wartet unruhig und atmet laut. Er will etwas sagen, spart es sich aber auf, ich spüre das.

»So, bitte«, sage ich dann und klicke erneut auf Start:

»Wir wurden zur Hygiene geschickt … Da mussten wir uns ausziehen … aber ich hatte ja noch meine Brosche bei mir … und dann wurden wir gesäubert.«

»Ich würde die Stelle umstellen«, bemerkt Hartmut belehrend, und greift sich die Maus.

Er beginnt herumzuwerkeln, und ich sitze zehn Zentimeter neben ihm und inhaliere seinen Schweißgeruch und seinen Kaffeeatem. Nach etwa drei Minuten verkündet er:

»So, jetzt ist es besser, glaub’ ich«, und klickt auf Start.

»Ich hatte meine Brosche bei mir … Wir wurden zur Hygiene geschickt … Da mussten wir uns ausziehen… und dann wurden wir gesäubert.«

»Ist doch besser so, oder?«, ereifert er sich.

»Auf jeden.«

Hartmut sieht mich jetzt sehr aufmerksam an und kommt unangebracht nah an mein Gesicht heran. Ich hasse es, wenn Leute einem beim Reden so dicht auf die Pelle rücken, besonders dann, wenn sie nach Schweiß und nach verfluchtem Kaffee aus dem Maul riechen.

»Sag mal Max, hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich bei dir oft das Gefühl habe, dass du überhaupt nicht richtig bei der Sache bist.«

»Bisher noch nicht.«

»Dann sage ich’s dir jetzt … Also, der Eindruck, den du mir vermittelst ist, also – es wirkt alles so unwillig bei dir.«

»Unwillig?«

»Ja, ich erwähnte ja schon dein mangelndes Einfühlungsvermögen, und überhaupt, deine häufige Abwesenheit.«

»Abwesenheit?«

Sein Schweißgeruch wird mir langsam unerträglich.

»Ja, ich meine, gedanklich, deine gedankliche Abwesenheit – obwohl du ehrlich gesagt auch zu viele Pausen machst … und dann immer die ganze Küche vollrauchst, warum rauchst du eigentlich nicht draußen?«

»O. k., unwillige gedankliche Abwesenheit, Küche vollqualmen, was noch?«

»Da brauchst du nicht gleich patzig zu werden … ich teile dir ja bloß meine subjektive Meinung mit und …«

Er stockt. Eine gewichtige Pause folgt. Er räuspert sich, dann folgt der Schlussakkord:

»Also, wenn ich ganz ehrlich sein soll … du bringst dich nicht genügend ein … und ich halte es, glaube ich, deshalb für das Beste … wenn wir unser Arbeitsverhältnis lösen würden.«

»Aha.«

»Ja.«

»Das scheint dann wohl die Lösung zu sein.«

»Ja, ich fürchte.«

»Sofort.«

»Ich denke, es wäre besser, ja. Irgendwie gehörst du hier nicht her.«

Ich blicke vor mich hin und denke nach, jedenfalls denkt er, dass ich nachdenke. In Wahrheit schaue ich aus dem Fenster und betrachte die sich im Wind wiegenden Bäume und denke eigentlich gar nichts, außer vielleicht daran, hier bloß endlich zu verschwinden und dabei nicht zu gleichgültig zu wirken, ich möchte Hartmut schließlich nicht verwirren. Es hatte ihn sicher Überwindung gekostet, mich hier rauszuwerfen. Wahrscheinlich wollte er das schon seit Wochen, nur fehlte ihm die richtige Gelegenheit. Jetzt war sie da. Er muss sehr erleichtert sein.

»O. k., schade«, zwinge ich mich zu sagen, »dann mach’s mal gut, Harry.«

»Also, äh … du brauchst nicht jetzt zu gehen, also ich mein´, nicht gleich sofort, in diesem Moment«, erwidert Hartmut etwas peinlich berührt.

»Ein Pflaster sollte man schnell abreißen.«

Sein Verlegenheitsgetue löst bei mir fast einen Lachanfall aus. Ich konzentriere mich auf seinen Schweißgeruch. Der Lachreiz vergeht. Ich bekomme Lust, eine zu rauchen, und vor allem Lust, jetzt wirklich zu verschwinden.

Nachdem Hartmut sich in sein Büro verzogen hat, erstelle ich eine neue Variante. Zehn Minuten später lasse ich meine Neufassung auf voller Lautstärke und auf Endlosschleife laufen und mache, dass ich verschwinde.

»Da stand so eine riesige Brosche auf dem Hof, und ich hatte das Gefühl, die gehört da überhaupt nicht hin … Warum steht hier diese riesengroße Brosche? … Und dann war ich schwanger, glaub ich, und es blutete aus meinem Köfferchen … und vor dem Eingang musste man seine Nase abgeben, und die wurde dann gesäubert, also gewaschen, mein` ich … und dann blutete es aus meinem Eingang ... und es blutete und blutete …«

 

Draußen ist es sonnig, warm und windig. Die Kinder spielen. Ich zünde mir eine an. Draußen ist das Leben. Morgen beginnt ein neuer Tag.

 

 

 

Jörn BIRKHOLZ, geboren 1972 in Bremen, Historiker. Veröffentlicht regelmäßig Texte (Prosa) in Literaturzeitschriften (u. a. im sterz, Lichtungen, erostepost) Publikation: „Deplatziert“ 2009, dritte Auflage 2011. Webseite: deplatziert.tumblr.com