22. Dezember 2013

Die Armillarsphäre der Kunst

 

Georg Christoph Lichtenberg: F 787 (Schlechte Kunst 9)

 

Im Folgenden lassen wir uns von dem Göttinger Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) auf eine mathematische Bahn werfen, die Aufschluss über ästhetische Dinge zu geben verspricht. Der etwa eine dreiviertel Seite einnehmende Aphorismus aus Lichtenbergs Sudelbüchern, der die Kennziffer F 787 trägt, wird Satz für Satz wiedergegeben und kommentiert. Der Kommentar ist der Versuch eines Nicht-Mathematikers. Lichtenbergs Text, der nicht der neuen Rechtschreibung folgt, wird kursiv gesetzt. Am Ende des Kommentars ist F 787 in Gänze zu lesen.

Unter den Ideen die aus der höchsten Mathematik auch zum Nutzen minder erhabner Wissenschaft retroszendent gemacht werden können ist die von den Differentialen eine der fruchtbarsten.

Was Lichtenberg unter höherer Mathematik verstanden wissen wollte, wissen wir nicht, aber immerhin gibt er ein Beispiel für das, was er höchste Mathematik nennt, Differentialrechnung, von der im Folgenden in Ansätzen die Rede ist. Höchste Mathematik sei eine erhabene Wissenschaft. Was aber ist die minder erhabene Wissenschaft, die nicht eigens genannt wird? Möglicherweise hilft ein Blick auf den Neologismus "retroszendent" weiter. In dem Aphorismus mit der Kennziffer F 785 wird dieser Begriff einem bekannteren gegenüber gestellt: "Man kann nicht allein Dinge aus der Körper-Welt transzendent machen, sondern auch Dinge aus der Geister-Welt retroszendent auf die Körper-Welt zurück." Vielleicht versteht Lichtenberg selbst F 787 als Kommentar zu F 785, indem er jetzt ein Beispiel für den Rückweg aus der Geisterwelt gibt? Der Gegensatz zu transzendent ist nicht retroszendent (hier wird nur die Richtung gewechselt), sondern immanent. Wie aber macht man Dinge aus der Körperwelt transzendent? Man nehme einen schönen Schuh, extrahiere das Schöne daraus, mache es zu einer Idee, und schon hat man ein Ding aus der Geisterwelt, hier also die Idee des Schönen, die wiederum auf Körperweltliches retroszendent gemacht werden kann (ein schönes Haus etc.). Ob Lichtenberg ein solches platonisches Modell im Sinn hatte? Wie auch immer, die minder erhabene Wissenschaft scheint vor allem mit der Körperwelt in Kontakt zu stehen, ohne diese zu überschreiten oder überschreiten zu wollen. Kein Zweifel, Lichtenberg ist als Aufklärer unterwegs (Nutzen bringen), wenn auch höherer Ordnung. Zur Idee von den Differentialen gibt der nächste Satz Lichtenbergs Auskunft:

Man lernt da die Verhältnis verschwindender Größen angeben.

Wenn man das Gebiet der Sichtbarkeit verlässt und gleichwohl mit Größen, wie klein sie auch sein mögen, arbeitet, ist das in der Tat erhaben zu nennen, wenn auch vielleicht negativ erhaben, denkt man an die Beispiele, die von den Theoretikern des Erhabenen des 18. Jahrhunderts wie Burke oder Kant ins Spiel gebracht werden (Kant: "Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist." Kritik der Urteilskraft, S. 91). Erinnert sei daran, dass nach Kant kein sinnliches Beispiel einer schlechthinnigen Größe gegeben werden kann, da jedes große körperliche Ding im Verhältnis zu einem noch größeren wiederum als klein erscheint.

Jede für sich allein genommen ist nichts, verglichen kann das eine Nichts vom andern unendlich übertroffen [werden].

Die Zahl Pi ist eine transzendente Zahl, sie lässt sich nicht als ganze Zahl, Wurzel oder Bruch ausdrücken. Wer sich großzügig im Kommata-Bereich dieser Zahl aufhält, mag sich vielleicht nicht vorstellen, aber vielleicht ausdenken, wie ein Nichts das andere noch vergleichslos nichten kann – weil man eben nicht an ein Ende kommen, also nicht auszählen kann.

Newton und Kindermann in der Wickelschnur waren beide für uns wenigstens nichts.

Newton: Sir Isaac Newton. Kindermann: "Der Astronom Kindermann glaubte ein Fernrohr erfunden zu haben, womit man um die Erde herum sehen könnte, und ließ es sogar in Kupfer stechen." (Lichtenberg, F 640). Wickelschnur: Nabelbinde oder Band zum Wickeln des Säuglings. Eine Frage an Physiognomiker à la Lavater (den Lichtenberg entschieden bekämpfte): Sieht man dem Baby schon das spätere Genie an?

Als das kleine Herz in Mutterleibe in beiden sich zum erstenmal zusammenzog oder ausdehnte, wer hätte sehen können, daß da der eine als Mann die Planeten wog, der andere ein Sehrohr erfinden würde von Dresden aus die Schiffe auf dem stillen Meer zu sehen, oder gar um die Welt herum zu sehen.

Was sich im vorletzten Satz schon andeutete, wird in diesem expliziter gemacht: Zu der räumlichen Größenordnung (der große und der kleine Newton, also Newton als Baby und als Erwachsener) kommt eine zeitliche Ordnung von Früher und Später und eine symbolische Ordnung (der (noch) bedeutungslose Säugling, der bedeutende Physiker) hinzu. Zugleich wird unterschwellig Newton gegen Kindermann ausgespielt, tatsächliche Größe gegen vermeintliche Größe, Seriosität gegen Albernheit oder Absurdität.

(Was ich vor mir sehe, sehe ich um die Erde herum, wenn ich einen großen Zirkel addiere.)

Lichtenberg scheint weniger ein bloß mentales Bild vorführen zu wollen, als dass er ein Prinzip angibt, das sich von der realen auf die funktionale Ebene verschiebt.

Zween schlechte Schriftsteller, die beide so schlecht sind, daß kein vernünftiger Mann imstand ist drei Zeilen in ihren Werken auszuhalten, können einander unendlich übertreffen.

(Vgl. hierzu bereits Satz 3 dieses Aphorismus'.) Man versuche sich die Haltung des vernünftigen Mannes oder der vernünftigen Frau (in der Zeit Lichtenbergs fast noch ein Widerspruch) vorzustellen. Der eine schlechte Schriftsteller kommt erst gar nicht in Frage für den Leser oder die Leserin. Er ist bereits als schlecht chrakaterisiert, somit stigmatisiert. Der andere schlechte Schriftsteller enttäuscht durch seine Produktion, die bislang als akzeptabel oder sogar gut galt. Er ist also nun auch nicht zum Aushalten, aber immer noch auf einer anderen Ebene im Vergleich zum ersten Schriftsteller. Das "schlecht" im Geschmacksurteil spielt auf verschiedenen Niveaus. Lichtenberg führt seinerseits aus:

Ich meine der eine kann auf einer großen Bahn auf Null stehen und der andere auf einer die am Ende zur berüchtigten Albernheit führt.

Jeder große Autor kann auch einmal eine Nullnummer lancieren. Ihm kann vergeben werden. Die Hoffnung ist da, dass das nächste Produkt die große Bahn vielleicht sogar erweitert. Die andere von Lichtenberg angesprochene Bahn verspricht nichts mehr, alle dort situierten Produkte sind ab ovo zum Scheitern verurteilt. Unsere heutige Auffassung von Albernheit ist allerdings anders, niemand würde sie mehr als berüchtigt beschreiben. Das heißt aber, dass wir andere Bahnen zeichnen, andere Wertigkeiten ins Spiel bringen, aber die Idee "von den Differentialen" selbst bleibt erhalten.

So sollten Kritiker von Werken urteilen.

Es kommt also nicht auf das Prädikat "schlecht" als solches an, sondern auf den Unterschied der jeweiligen Prädizierungen "schlecht", der Unterschied macht den Unterschied, Lichtenberg setzt auf Skalierung.

Es gibt sehr große kleine Schriftsteller, wollte ich sagen, und sehr kleine große.

Der große kleine Schriftsteller ist der weniger anspruchsvolle, der aber auf seinem Feld oder auf seiner Bahn viel leistet. Umgekehrt hat sich der kleine große Schriftsteller viel vorgenommen, kommt aber im direkten Vergleich (so es das gibt) etwa mit Shakespeare oder Homer schlecht weg.

Wenn Gott Schriftsteller wägt, so glaube ich wägt er sie so.

Die Planetenbahnen mögen von Astronomen vorausberechnet werden können. Die Armillarsphäre der Kunst bleibt dagegen eine Idee, die von Menschen (Kritikern) nicht retroszendent gemacht werden kann, denn der Kritiker ist selbst Teil dieser Sphäre; nur das Auge Gottes kann in ästhetischen Werturteilen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Eine Konsequenz aus der menschlichen Immanenz des Wägens besagt, dass die auf das Gebiet der Kunstproduktion retroszendent gemachte Idee von den Differentialen zuletzt besagt, dass die Idee des (absolut) Schönen nicht verfügbar ist. Man sieht: Die Ideen der höchsten Mathematik sind nicht notwendigerweise die höchsten Ideen überhaupt.

Es ist verdrießlich Exempel zu geben.

Genau. Nur Gott könnte wirklich überzeugende Beispiele anbringen. Aber diese würden eben nur Gott überzeugen. Nur in einem Verhältnis lassen sich Verhältnisse skizzieren. Und der jeweils schon codierte kritische Blick mag von anderen Geschmäckern entlarvt oder verworfen werden.

Allein ich glaube Klopstock hat es auf einer kleineren Bahn weit gebracht, Milton steht einige Staffeln tiefer auf einer größern, wären beide ins Unendliche gegangen, so wäre Klopstock gegen Milton verschwunden.

Staffel besagt so viel wie Stufe. Erneut, wie schon im Newton-Vergleich, macht Lichtenberg das zeitliche Moment stark; er hebt aber jetzt auf eine Möglichkeitsebene ab, die nicht mehr im Kontrollbereich eines menschlichen Urteilens liegt, denn die Unendlichkeit ist die Sphäre Gottes. Es geht hier eher um vermeintliche Kapazitäten von Künstlern und Schriftstellern, die extrapolierbar und potenzierbar sind und so gewissermaßen von selbst Differenzen zwischen den Produzenten schaffen. Man sieht hieran auch, dass Lichtenberg produktionsästhetisch vorgeht und nicht rezeptionsästhetisch (dieser Unterschied wird überhaupt erst in Lichtenbergs Zeit anfangen sich bemerkbar zu machen etwa durch Lessings ästhetische Betrachtungen oder die von Lichtenberg sehr skeptisch gesehene Produktion des Sturm und Drang).

Nach dieser Idee kann ein schlechterer Dichter einen großen übertreffen.

Das muss natürlich die conclusio in Lichtenbergs Differential-Betrachtung sein, die dem Voranstehenden nichts substantiell Neues beifügt. Und doch ist eine solche Feststellung immer ein in-time-claim. Und so muss man Lichtenbergs schlichtes Wort "kann" in dem letzten Satz in doppelter Ausfertigung, auf zwei unterschiedlichen Bahnen, die sich vielleicht gar nicht berühren, anbieten: Lichtenberg wäre natürlich gerne auf der Seite Gottes, der alleine geschmackssicher zwischen gut und schlecht unterscheiden kann. Aber Lichtenberg glaubt immerhin, dass es den guten und den schlechten Schriftsteller oder Künstler gibt, über die Zeiten hinweg. Für den heutigen Leser ist Milton und Klopstock gleich weit entfernt, in Sphären kreisend, die wir vielleicht nur noch bestaunen können. Die präjudizierte Güte ist dann nur ein on dit, das man gerne ungeprüft weitergibt, denn sonst müsste man sich die ganze Arbeit am Text noch mal machen. Und nicht nur dieses Textes. Die künstlerische Armillarsphäre ist verteufelt dicht, aber die wunderbare Idee von den Differentialen ficht das gar nicht an.

Dieter Wenk (11-13)

 

Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, hrsg. Von Franz H. Mautner, Frankfurt am Main 1984 (Insel Taschenbuch)

 

F 787:

Unter den Ideen die aus der höchsten Mathematik auch zum Nutzen minder erhabner Wissenschaft retroszendent gemacht werden können ist die von den Differentialen eine der fruchtbarsten.

Man lernt da die Verhältnis verschwindender Größen angeben.

Jede für sich allein genommen ist nichts, verglichen kann das eine Nichts vom andern unendlich übertroffen [werden].

Newton und Kindermann in der Wickelschnur waren beide für uns wenigstens nichts.

Als das kleine Herz in Mutterleibe in beiden sich zum erstenmal zusammenzog oder ausdehnte, wer hätte sehen können, daß da der eine als Mann die Planeten wog, der andere ein Sehrohr erfinden würde von Dresden aus die Schiffe auf dem stillen Meer zu sehen, oder gar um die Welt herum zu sehen.

(Was ich vor mir sehe, sehe ich um die Erde herum, wenn ich einen großen Zirkel addiere.)

Zween schlechte Schriftsteller, die beide so schlecht sind, daß kein vernünftiger Mann imstand ist drei Zeilen in ihren Werken auszuhalten, können einander unendlich übertreffen.

Ich meine der eine kann auf einer großen Bahn auf Null stehen und der andere auf einer die am Ende zur berüchtigten Albernheit führt.

So sollten Kritiker von Werken urteilen.

Es gibt sehr große kleine Schriftsteller, wollte ich sagen, und sehr kleine große.

Wenn Gott Schriftsteller wägt, so glaube ich wägt er sie so.

Es ist verdrießlich Exempel zu geben.

Allein ich glaube Klopstock hat es auf einer kleineren Bahn weit gebracht, Milton steht einige Staffeln tiefer auf einer größern, wären beide ins Unendliche gegangen, so wäre Klopstock gegen Milton verschwunden.

Nach dieser Idee kann ein schlechterer Dichter einen großen übertreffen.