15. Dezember 2013

Philosophie, neu grundiert

 

Der Singular des Begriffs Kognitionswissenschaft lässt vermuten, dass sich die zu erwartende Pluralität dieser relativ jungen Wissenschaftsdisziplin im ersten Teil des Begriffs verbirgt. Entsprechend aufgefächert, wird nicht nur ein reicher thematischer, sondern auch zeitlicher Rahmen erkennbar: Als Teildisziplinen der Kognitionswissenschaft gelten neben Anthropologie, Informatik und Linguistik auch Neurowissenschaft, Psychologie sowie Philosophie. Was zum Beispiel der Philosoph Descartes glaubte aus der Metaphysik ausblenden zu müssen – die trügerische körperliche Basis des Menschen –, wird kognitionswissenschaftlich souverän wieder zurückintegriert:

"Die Kognitionswissenschaft ist ein integratives Forschungsprogramm, das eine empirisch wie begrifflich umfassende transdisziplinäre Untersuchung jener kognitiven Leistungen anstrebt, die komplexe natürliche bzw. künstliche Systeme – z.B. Menschen, andere Tiere, Computersimulationen oder Roboter – befähigen, durch intelligentes Verhalten Probleme verschiedenster Art möglichst effizient zu lösen." Ein stärker philosophisch ausgerichteter Anschnitt dieser Wissenschaftsdisziplin, die sich um 1950 aus dem damals herrschenden Behaviorismus heraus entwickelte, legt den Schwerpunkt auf die Untersuchung "interner Repräsentationen", also von Gedanken, Vorstellungen, Wahrnehmungen, Wünschen oder "unbewusst vorliegenden Repräsentationen von Bewegungsmustern". Kurze emotionale Episoden wie Furcht oder Freude werden dabei nicht nur auf eine mögliche externe Position der Verursachung bezogen, sondern auch und vor allem enzephalografisch kartografiert.

Dass man auf diesem Feld durchaus weiter ist als noch vor 150 Jahren, als man begann, das Gehirn als zentrale Schaltstelle und Ort von Informationsverarbeitung zu begreifen, wird allein dadurch deutlich, dass anders als damals, als man von Wernicke- oder Broca-Regionen sprach, diese Regionen aufgelöst werden und das mentale Analogon als Cluster-Effekt in den statistisch eingebundenen Blick gerät. Davon und von vielem anderem ist in diesem beeindruckenden Handbuch die Rede, das in fünf Kapitel unterteilt ist.

Im ersten, das Ursprünge und Anfänge der Kognitionswissenschaft behandelt, wird u.a. untersucht, ob diese im Verhältnis zum Behaviorismus tatsächlich eine Revolution darstellt. Das zweite Kapitel präsentiert die schon oben genannten Teildisziplinen der Kognitionswissenschaft, deren Teile dann noch einmal in weitere Subgenres aufgeblättert werden; in der Philosophie etwa werden hier thematisch die Philosophie des Geistes, die Neurophilosophie und Philosophie der Neurowissenschaft, die Neurophänomenologie sowie die Logik. Es folgen die beiden Hauptteile des Handbuchs (Kapitel drei und vier): Strukturen kognitiver Systeme sowie Kognitive Leistungen. Gefragt wird etwa, was denn zur "eigentlichen" kognitiven Maschinerie gehöre und was bloß als Medium dieser Maschinerie diene. Entsprechend erweitert kann dann von "situierter Kognition" gesprochen werden. Anpassungsphänomene des Gehirns werden als "neuronale Plastizität" verhandelt. Sigmund Freud wäre heutzutage wohl selbst Neurowissenschaftler geworden, denn seine Anfänge lagen in dem damals noch schwer zugänglichen Bereich psycho-physikalischer Entsprechung. Heutige Traumforschung hat mit der Traumdeutung nicht mehr viel zu tun, in dem Handbuch-Kapitel "Träumen" taucht Psychoanalytisches nicht mehr auf. Das fünfte Kapitel des Handbuchs stellt neuere Entwicklungen der Kognitionswissenschaft vor, darunter fallen so interessante wie sonderbare Forschungsfelder wie "Kognitive Archäologie" oder "Kognitive Poetik".

Nach der inoffiziellen "Abschaffung" der Geisteswissenschaften ist die Kognitionswissenschaft noch nicht an die frei gewordene Stelle getreten; aber der in epoché gesetzte Geist wird sich in Zukunft gewisser Annäherungsversuche von einer Wissenschaft, die "es" wirklich wissen will, nicht entziehen können. Hallo, Dialektik!

 

Dieter Wenk (12-13)

 

Achim Stephan, Sven Walter (Hrsg.): Handbuch Kognitionswissenschaft, Stuttgart/Weimar 2013 (J.B.Metzler)

 

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