8. Dezember 2013

Relecture des Surrealismus

 

„Ich bin nur ein kleines Atom, das im Winkel Deiner Lippen atmet, oder stirbt!“ (Léona „Nadja“ Delcourt an André Breton; Paris, den 26. Oktober 1926, S. 234). Leidenschaft, Obsession aber auch Devotion, Abhängigkeit und Wahnsinn kennzeichneten die Beziehung Léona Delcourts alias Nadja (1902–1941) zu dem Surrealismus-Paten André Breton (1896–1966). In den wenigen Wochen um die Jahreswende 1926/27 entwickelte sich zwischen beiden eine komplexe und in vielerlei Hinsicht verhängnisvolle Liebesbeziehung, die als Prototyp der surrealistischen Amour fou gelten kann. Wenig später, 1928, sollte Breton diese Beziehung in seinem Roman Nadja in eine literarische Imagination verwandeln. Dass dieser Begegnung bereits vor ihrer Literarisierung etwas Fiktives, etwas Unwirkliches innewohnte, bezeugt die Geste, dass sich Nadja ihren Namen selbst gab und sich damit gewissermaßen selbst als Romanfigur erfand. Doch dieser unbedingte Wille, eine zweite, eine literarische Existenz zu führen, geht noch weiter: Am 10. Oktober 1926 schreibt, fleht und beschwört Nadja ihren Angebeteten zu diesem Schritt: „André? André? ... Du wirst einen Roman über mich schreiben. Glaub mir. Sag nicht nein. Pass auf: alles verblasst, alles verschwindet. Von uns muss irgendetwas bleiben ...“ (S. 85). Auch das Nachleben braucht eine sichere Anlage, und mit Breton hat Nadja auf eine gute Bank gesetzt. Mit dem Roman Nadja, den Karl Heinz Bohrer einst eine „Basisschrift der klassischen Moderne genannt hat, sind sowohl dessen Protagonistin als auch ihr Autor unsterblich geworden, und dennoch ist es eine Geschichte ohne happy end, die für Nadja im Irrenhaus endete.

 

Rita Bischof hat sich dem Roman und der Person Nadja nun aus einer neuen Perspektive genähert und ist in ihrer Studie Nadja revisited in das undurchsichtige Gewebe von Realem und Fiktionalem eingedrungen. In einer dichten Lektüre konfrontiert sie den Roman mit den Briefen Nadjas, die eigens für dieses Buch zusammengestellt, übersetzt und sorgsam ediert wurden. Bischof forscht dabei nicht nur der Geschichte eines großen Romans und einer fatalen Liaison nach, sondern entwirft am Beispiel Nadjas auch eine faszinierende Relecture des Surrealismus. In ihren früheren Büchern hatte sich Bischof bereits sehr kenntnisreich mit dem französischen Philosophen Georges Bataille auseinandergesetzt, hatte in Souveränität und Subversion. Batailles Theorie der Moderne (1984) dessen Denken seziert, sich in Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale (2010) auf die Spur seiner obskuren Geheimgesellschaft gemacht und mit Georges Bataille. Die Aufgaben des Geistes: Gespräche und Interviews 1948 – 1961 (2012) auch eine Edition von Batailles seltenen Interviews vorgelegt. Dass es nun zu einer Beschäftigung mit Breton kommen musste, erscheint folgerichtig, immerhin verbindet Bataille und Breton ebenfalls eine komplizierte und wechselvolle Beziehung. Auf die erste Begegnung 1926 (in diesem Jahr trifft Breton auch Nadja) im Café Cyrano in Paris folgt eine Phase gegenseitiger Ablehnung: Bataille weist eine Einladung Bretons zu einem surrealistischen Gipfeltreffen barsch zurück, woraufhin Breton seinen Konkurrenten im Zweiten Surrealistischen Manifest (1930) aufs Ärgste diffamieren sollte. Dennoch kommen beide im Oktober des Jahres 1936 für eine kurze Zeit zusammen, um sich in dem revolutionären Kampfbund Contre-Attaque gegen den immer bedrohlicher werdenden Faschismus aufzubäumen. Dieses Projekt war jedoch ebenso unverfolgreich wie kurzlebig und sollte beide nach dessen Kollaps nur noch weiter entzweien. Nadja schien zu diesem Zeitpunkt bereits lange vergessen und vegetierte nach einem psychischen Zusammenbruch als diagnostizierte Geisteskranke bis zu ihrem Tod 1941 in einer Psychiatrie.

 

Bischof erzählt die Beziehung von Autor und Muse, die bereits sehr schnell auch in eine Beziehung zwischen Arzt und Patient umzukippen drohte, sehr behutsam. Sie umgeht dabei der Versuchung, Nadja erneut zu pathologisieren, stellt die patriarchalische Geste der Psychiater bloß und zeigt, wie Nadjas wildes und ungezähmtes Sprechen den normalisierenden Machtinstrumenten der Ärzte zum Opfer fiel. Selbst Breton, der surrealistische Apologet des Wahnsinns, schreckt vor ihr zurück, lässt sich einschüchtern, avanciert dabei zum Apostel der Vernunft, nur um später unerbittlich Kritik an Nadjas Einsperrung zu üben. Distanz macht mutig. Mit seinem Protest gegen die Psychiatrie und deren Praktiken jener Zeit sollte Breton jedoch eine Position vorzeichnen, die später auch Intellektuelle wie Michel Foucault in seiner Schrift Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961), Gilles Deleuze und die Antipsychiatrie-Bewegung weiter ausarbeiten sollten. Auch Bischof deutet Nadjas Zusammenbruch sowie ihre in den Briefen oft sehr enigmatischen und assoziativen Gedanken nicht als Ausdruck einer geistigen Störung, sondern als eine „Sprache der Zerrissenheit“ (S. 133) und genuin surrealistische Denkbewegungen. Ein ebensolches Bild vermitteln Nadjas Zeichnungen und Skizzen, die für das Buch reproduziert wurden und trotz ihrer kompositorischen Vorläufigkeit einer surrealistischen Weltsicht zuzuordnen sind. Breton hat sich von diesem Sprechen beeinflussen lassen und für seinen Roman immer wieder auf Nadjas Imaginationen zurückgegriffen.

 

Nadja revisited geht allerdings noch weiter: In einem langen Kapitel behandelt es die Fotografien, die Breton seinem Roman beigefügt hat, und erzählt damit auch eine Mediengeschichte des Surrealismus. In einer Art cross-reading konfrontiert Bischof Bretons und Nadjas Texte im Lichte Hegels, der zu dieser Zeit immer noch als dunkler Schatten über den Intellektuellen lag und den Surrealisten durch die legendären Seminare Alexandré Kojèves vermittelt wurde. Auf dem Weg zu sich selbst muss sich der Geist notwendigerweise von sich selbst entfremden und sich im Wahnsinn verlieren, so Hegels These aus der Phänomenologie des Geistes (1807), die Breton auch mittels der Interpretation des italienischen Philosophen Bendetto Croce rezipierte. Dessen Hegelstudie Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie (1907) sollte er in Nadja direkt zitieren. Neben Hegel eröffnet Bischof außerdem einen analytischen Zugang über Sigmund Freuds Psychoanalyse sowie Jacques Lacans späterer „Rückkehr zu Freud“, die in gleich mehrfacher Hinsicht von den Deutungen und Vereinnahmungen der Surrealisten geprägt scheint. Gerade dessen sprachtheoretische Restrukturierung der Psychoanalyse – „das Unbewußte ist wie eine Sprache strukturiert“ – steht in direktem Zusammenhang mit Bretons Sprachverständnis, das Bischof in einem abschließenden Kapitel „Nadjas Sprache“ erneut aufgreift.

 

Nadja ist eine geheimnisvolle Person, daran vermag auch dieses Buch, das sich zu keinem Zeitpunkt einfachen Zuschreibungen und unterkomplexen Deutungen hingibt und dabei bewusst offen bleibt, nichts zu ändern. Gerade in der Geste, mehrere Blickwinkel auf diese geheime Protagonistin des Surrealismus aufzuzeigen, aber nicht bis zum Ende durchzudeklinieren, liegt der besondere Reiz dieser Studie. Der Leser wird damit selbst zur wiederholten relecture aufgefordert und dazu angehalten, Nadja noch einmal zu lesen, noch einmal „zu besuchen“ – „revisited“ als Programm also. War Léona „Nadja“ Delcourt vielleicht die surrealistische Doppelgängerin von Sabina Spielrein? So wie diese zunächst als Hysterikerin diagnostiziert wurde und später einen schwer zu bestimmenden Platz als Muse, Kollegin und Liebhaberin C. G. Jungs einnahm (und auch in regem Kontakt zu Freud stand), so ambivalent erscheint auch die Position Nadjas im Dunstkreis des Surrealismus zu sein. Auch sie ist stets alles zur gleichen Zeit: Geisteskranke, Inspiration, Künstlerin und Liebende. Beide eint die Schwierigkeit in einer ausgesprochenen Männerwelt – der Psychoanalyse, dem Surrealismus – eine eigene Sprache zu finden. Spielrein ist dies vielleicht auch durch Anpassung gelungen, sie wurde als erste Frau im Fach Psychoanalyse promoviert; Nadja hingegen wurde zum Begutachtungsobjekt der psychiatrischen Ärzte, zum Gegenstand einer selbst zum Wahn gewordenen Definitions- und Normalisierungspraxis der immer noch im Denkhorizont des 19. Jahrhunderts verhafteten Medizin.

 

Rita Bischof ist mit Nadja revisited erneut ein wichtiger und sehr lesenswerter Beitrag zur französischen Intellektuellengeschichte des frühen 20. Jahrhunderts gelungen. Ihr Buch trägt die Signatur eines Essays, antizipiert den skizzenhaften Gestus von Nadjas Zeichnungen und ist im besten Sinne eine ergebnisoffene Suche nach einem Zugang zu einer literarisch-biografischen Textcollage, in der sich Realität und Fiktion gegenseitig überschrieben haben und in einem gemeinsamen Palimpsest konvergieren. Der Berliner Verlag Brinkmann & Bose veröffentlicht Nadja revisited in einer bibliophilen Ausgabe mit verschiedenfarbigem Papier, das Studie und Briefedition voneinander trennt, einem Umschlag aus Packpapier und einer umfassend gelungenen Gestaltung, die in kleinen Details immer wieder auf den inhaltlichen Gegenstand des Buchs verweist. Gerade in Zeiten des E-Readers werden solche Bücher immer wichtiger und sind das beste Argument gegen die allgemeine Digitalisierungseuphorie.

 

Patrick Kilian

 

  

Rita Bischof: Nadja revisited, Berlin: Brinkmann & Bose 2013; 320 S., 70 Abb., Br. und in Packpapier eingeschlagen.

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon 

 

Vergleiche auch:

Georges Bataille: Die Aufgaben des Geistes. Gespräche und Interviews 1948–1961, hg. v. Rita Bischof, Berlin: Matthes & Seitz 2012; Rezension: www.textem.de/index.php