Fremdgehen
Sie sind fremdgegangen ... besser: Sie waren bei einer Prostituierten ... nein ... noch besser: Vor Jahren sind Sie einige Male zu Prostituierten gegangen, während Sie bereits mit Ihrer jetzigen Frau zusammen waren. Um ehrlich zu sein ... nein besser: Ihre Frau fragt, ob Sie jemals bei Prostituierten waren, und Sie bejahen. Wie oft, lautet die nächste Frage. Öfters, die Antwort. Wann, fragt sie weiter ... und Sie antworten wahrheitsgemäß. Daraufhin verlässt Ihre Frau Sie. Wer kennt dies Szenario in der einen oder anderen Variante nicht. Ich bin kein Wirklichkeits- oder Wahrheitsfanatiker. Und die unheilvoll überfrachtete Allianz von Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Sexualität analysieren, das hat Foucault bereits getan. Und es liegt mir fern, Prostitution oder gar Prostituierte zu verurteilen. Ich wundere mich nur, dass ein Leben oder dessen Entwurf retrospektiv noch zerbrechen kann. Selbst wenn beide die gemeinsame Zeit als glückliche bezeichnet haben. Als gäbe es ein übergeordnetes, inneres Maß, das selbst retrospektiv auf das Leben wertend wirkt, abgeschirmt durch Tabus. Die Wertschätzungsketten des oben genannten Paars scheinen jeweils unterschiedlich oder auf falsch angenommenen Wertschätzungen zu beruhen. So kann das Leben, und das ist eine erstaunlich menschliche Leistung, nach so einem Erlebnis unter Umständen als misslungen oder verpfuscht bewertet werden, obwohl derzeit glücklich. Sodass die nun umgewertete Vergangenheit nun, im Hinblick auf ... vielleicht nicht gerade wertlos, aber doch wenigstens wertverrückt erscheint. Dabei wird deutlich, die Wertschöpfungsketten reichen von der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft, diese hat sich damit, retrospektiv betrachtet, erst noch zu bewahrheiten. Tut sie dies nicht, kann die Gegenwart zerbrechen und die Zukunft versteht sich nicht mehr wie von selbst. Wir kennen das allzu gut, wenn wir unsere Dummheit beschimpfen, überhaupt etwas gesagt zu haben. Dabei ist dieses Phänomen keine Sache des Einzelnen, denn täglich arbeiten wir gemeinsam an diesen unseren Wertschätzungsketten.
»Ich bezahle für Sex – Aufzeichnungen eines Freiers«, von Chester Brown. »Fräulein Else«, von Manuele Fior, nach einer Novelle von Arthur Schnitzler. Die Ausstellungen von R. B. Kitaj in Berlin, London und Hamburg. Philip Roths »Sabbaths Theater«. Georg Simmels »Philosophie des Geldes«. »Verhandlungen im Zwielicht – Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart«, herausgegeben von Sabine Grenz und Martin Lücke und die neuesten Diskussionen um Alice Schwarzers »Prostituion – ein deutscher Skandal« waren seit der ersten R. B. Kitaj-Retrospektive im jüdischen Museum in Berlin meine Referenzpunkte.
Der Maler R. B. Kitaj lobt die spaßigen Bordellstunden über einen Audioguide. Und rechtfertigt sich mit Picassos »Les Demoiselles d’Avignon«, der Ikone der Moderne, mit der Begründung, dass diese eben auch Prostituierte waren. Damit stellt er sich in eine Tradition, die von Degas bis Dix reicht. In Dix’ Hamburger Ausstellung von 2007 im Bucerius Kunst Form waren fast ausschließlich Frauen als Prostituierte zu sehen. Doch der Blick beider auf Frauen könnte nicht unterschiedlicher sein. Dix steht phänotypisch für den expressionistischen Blick auf Prostituierte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Eine Mischung aus Faszination und Ekel. Zu einer Zeit, als diese zum Massenphänomen wurde und Walter Benjamin den »arbeitsteiligen« und frauenfeindlichen Umgang der Studenten mit Prostituierten kritisiert, bevor diese zu braven Bürgern werden. Und wenn Georg Simmel darauf hinweist, dass an den Verfall des Geldes immer auch Körper gebunden sind, dann scheint sich dies gerade anhand von Prostituierten zu versinnbildlichen. Der 1932 geborene Kitaj hatte mit 17 seinen ersten Geschlechtsverkehr in einem Bordell in Havanna. Traumatisch, wie es Philip Roth in seiner fiktiven Biografie »Sabbaths Theater« über den Erotomanen Kitaj beschreibt. Mitt-20-Jähriger, verheiratet, lässt Kitaj sich in Wien als Mann mit Frau feiern. Ende der 60er begeht seine Frau Ellie Fischer Selbstmord. 1994, nach seiner großen Londoner Tate-Retrospektive, in der er jene, jetzt auf dem Audioguide zu hörenden Texte als schriftliche Kommentare neben den Bildern montierte. Die Ausstellung wird fast ausschließlich kritisiert. Seine Frau Sandra Fischer stirbt unerwartet plötzlich. Kurz darauf stirbt seine Mutter. Er denkt sich alle Ereignisse in Verbindung stehend. Frustriert zieht er sich zurück und begeht 2007 Selbstmord. Und da er seine Bildthemen aus dem Leben schöpft, traf ihn die lebenstypische Erschöpfung. Wie eine schiefgegangene Katharsis sieht die Londoner Ausstellung von heute aus betrachtet aus. Deren Pilgerreise 20 Jahre später von Berlin und London am 27. 10. 2013 in Hamburg zu Ende ging.
Anders als Kitaj geht der Comiczeichner Chester Brown in seiner autobiografischen Reportage mit dem Thema Prostitution um. Eingeleitet durch ein feinsinnig kluges Vorwort von Robert Crumb, der Browns immer gleichen Comicgesichtsausdruck beim Sex ernst nimmt und es mit der eigenen, lächerlich fratzenhaft komplexen Visage beim Sex vergleicht. Eine Visage, die so komplex banal ist, dass es ihr stets unmöglich war, zu Prostituierten zu gehen. Heißt wohl, dass das Bündel von Voraussetzungen bei Crumb so fest geschnürt ist, dass es sich bei einer monetär geprägten Begegnung der Geschlechter nicht so einfach entwirren lässt. Und um einen Tauschhandel geht es den Umständen entsprechend natürlich auch bei Brown. Arthur Schnitzlers »Fräulein Else«-Erzählung ist da schon komplizierter, wenn auch nicht auf den ersten Blick. Der reiche Kunsthändler Dorsday will die Schulden von Elses Vater begleichen, wenn er sie nur einmal nackt zu sehen darf. Mit diesem Angebot übt er Druck auf Else aus, zumal ihr Vater der Schulden wegen im Gefängnis sitzt. Unabhängig von diesem Zwiespalt zeigt die Novelle, dass bereits der männliche Blick, auch ohne Geld, Frauen zu dominieren vermag. Von früh auf sind Frauen diesen ausgesetzt und gezwungen, sich diesem gegenüber zu verhalten, indem sie z. B. ihr Äußeres in Hinblick auf den männlichen Blick kontrollieren. Das bestimmt ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwahrnehmung im Verhältnis zur Welt. Männer wachsen nicht unter derartigen Blickregimes auf. Jenseits von Dominanzgehabe und verklärter Liebe sind Beziehungen doch ganz einfach: Man muß Sex miteinander haben, sich gegenseitig helfen und sich riechen können, mehr nicht. Selten hat man alles auf einmal. Manchmal rettet einen guter Sex, andermal Hilfsbereitschaft, nur riechen sollte man sich, ganz physisch, immer können. Der Rest ist Übung. Wenn Chester Brown sich am Feierabend an den Computer setzt, um im Internet eine Beurteilung über eine Prostituierte zu schreiben, dann richtet er seinen Kontrollblickrichtstrahl, einseitig, widerlich, lebensfeindlich, Arbeitgeber-affin dumm, und vernichtend auf die Frau. Doch auch das ist für mich kein Grund, Prostitution abschaffen zu wollen, wie es Alice Schwarzer fordert. Dabei kann es immer nur um das Selbstbestimmungsrecht der Prostituierten gehen, deren, wie wir spätestens seit den Hierodulen wissen, enge Beziehungen zwischen Opfer, Geld, Religion und Staat dieses stets erschwert haben. Wobei es auch immer um die Deutungshoheit über den weiblichen Körper geht. Denn der soll nicht ohne Be-Deutung bleiben. Und das nur, weil Männer von Frauen abhängig sind. Wie aber wird Mann zum Feministen?
Christoph Bannat
Chester Brown, Ich bezahle für Sex – Aufzeichnungen eines Freiers. Walde+Graff Verlag 2012
R. B. Kitaj-Wanderausstellung Berlin, London, Hamburg (Ende 27. 10. 2013)
Manuele Fior, Fräulein Else, avant-Verlag
Philip Roth, Sabbaths Theater, Hanser-Verlag
Verhandlungen im Zwielicht, transcript-Verlag 2006
Sexualität und Wahrheit – Der Wille zum Wissen, Michel Foucault, Merve-Verlag
Geisterbahn und Glanzrevue, Otto Dix, Bucerius Kunst Forum 2007, Hirner-Verlag