3. Dezember 2013

Herzlichen Glückwunsch, Herr Guys!

 

Heute vor 150 Jahren, am 3.12.1863, erschien im Pariser Figaro der dritte und letzte Teil von Charles Baudelaires Essay Le Peintre de la vie moderne. Die beiden ersten Teile hatte das Blatt am 26.11. und am 29.11.1863 publiziert. Man könnte diese Schrift auch ein Manifest nennen: Baudelaire plädiert dort leidenschaftlich für ein neues, ganz und gar unakademisches Verständnis von Schönheit, denn er bricht souverän den Stab über die angeblich für alle Zeiten vorbildliche Schönheit der Antike, um einer Gleichursprünglichkeit des Schönen in und zu allen Zeiten das Wort zu reden.

Knapp fünfzig Jahre später, am 9.2.1909, publiziert übrigens derselbe Figaro ein weiteres Manifest, das diesmal seinen Namen nennt, das berühmt-berüchtigte Manifest des Futurismus von Filippo Tommaso Marinetti. In diesen fünfzig Jahren hat sich das entfaltet, was Baudelaire als einer der ersten – und nicht nur in Frankreich – die "Modernität" nennt. Doch während der Franzose dann doch noch von unveränderlichen Gesetzen der Kunst spricht und überhaupt einige sehr unmoderne Züge trägt wie seine Vorliebe für den Reaktionär Joseph de Maistre, bricht mit dem Futurismus und seiner radikalen Haltung avancierter Zeitgenossenschaft ein ganzes Kunstsystem zusammen. Die Avantgarde droht der alten und der neuen Kunst mit Vernichtung, will aber selbst noch als Kunst wahrgenommen und anerkannt werden. Diese Paradoxie ist noch für Dada gültig, der sie bewusst aufsucht und sich von ihr genussvoll zerlegen lässt in seine collagierten Einzelteile.

Bei Baudelaire dagegen ist wirklich Aufbruchstimmung. Er feiert einen Künstler, Constantin Guys, heute nur noch durch Baudelaire namentlich bekannt, der schon damals von Baudelaire in diesem Text nicht mit seinem Namen genannt werden wollte. Was Baudelaire schließlich doch an dem von ihm vergötterten Delacroix kritisieren musste, war dessen starke thematische und motivische Verpflichtung im Sinne der Tradition, also seine Indifferenz der eigenen Zeit gegenüber. 1859 lernt Baudelaire den niederländisch-französischen Künstler Constantin Guys kennen, von dem er sofort begeistert ist und dem er sein eigenes ästhetisches Programm unterlegt, das in der Folge unzählige Male zitiert worden ist:

"Die Modernität, das ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Kontingente, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unverrückbare ist."

Etwas weniger symmetrisch verfährt eine andere Stelle des Essays, in der Baudelaire den kategorialen Zug seiner Ästhetik erläutert, er bevorzuge eine "rationelle und historische Theorie des Schönen" vor einer Theorie des "einsinnig und absolut Schönen". Die Schönheit sei immer von doppelter Komposition, auch wenn der Eindruck, den sie verschafft, ein einziger sei. Er fährt fort:

"Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Teil, dessen Quantität außergewöhnlich schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von Umständen abhängigen Teil, der, wenn man will, einer nach dem anderen oder auch alle zusammen, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein kann."

Die Botschaft ist klar. Jede Zeit hat ihre eigene Schönheit. Am Anfang des 20. Jahrhunderts ist diese Bestimmung selbst schon veraltet. Die Schönheit wird freigegeben. Sie wird gejagt. Und sie wird erlegt, denn man findet sie jetzt außerhalb des Feldes der Kunst – in der technoiden Wirklichkeit. Mit diesem Mord hat das ganze ästhetische 20. Jahrhundert zu tun. Das 21. scheint diese Tat nur noch vom Hörensagen zu kennen. Erinnert sei deshalb auch an einen Pionier der Modernität, eben jenen Constantin Guys, der vor genau 211 Jahren, am 3.12.1802, geboren wurde.

Dieter Wenk (12-13)