27. Dezember 2003

Schnapp

 

„People take pictures of each other, just to prove that they really existed.“ (R. D. Davies)

 

Boris Brauchitsch will in der kleinen Geschichte die gesellschaftliche Bedeutung der Fotografie herausstellen, und was ihm auf jeden Fall gelingt ist, sich selbst herauszustellen, was sich für einen anständigen Enzyklopädisten ja auch so gehört. Die Meinung des Autors zu den unterschiedlichsten Aspekten der Fotografie erfährt man nie.

 

Augen auf, Augen zu, schnapp, fertig ist das Bild. Bis es so weit war, ging viel chemisches Material in die Ausgüsse, und Irrwitzigkeiten gab es in Hülle und Fülle. Eine Camera obscura von der Größe einer heutigen Doppelgarage oder kleine Schachteln, die von der Hausmutter „Mausefallen“ genannt wurden. Gut zu wissen ist, dass die bis heute nicht befriedete Konkurrenz zwischen Malerei und Fotografie im Grunde älter ist als die Fotos, denn das Gezänk um Stofflichkeit und Verdinglichung setzt bereits zu einem Zeitpunkt ein, wo kein akzeptabler Abzug weit und breit in Sicht liegt. Die „Kleine Geschichte der Fotografie“ von Brauchitsch ist also generell interessant, denn Unheil dräut durch jede neue Technik, sobald man sie sich nur vorstellen kann, und lässt sich länger nicht mehr abweisen. Auch wenn man die Fotografen erst mal auf das Feld der Dokumentation zu verbannen suchte, für Maler bleibt Fotografie eine Katastrophe.

Und das war Fotografen schließlich möglich: „Alle Schönheiten dieser Erde in einer kleinen dunklen Box (und) zu Hause plastisch verfügbar“. Hei ho das ist die „Schönheit der Geschwindigkeit“, wie es im „futuristischen Manifest“ von 1909 heißt. Liedschlag, Augenblick und Verschlusszeit feiern Sonnenfinsternis. Man ist ganz Auge oder behauptet das, und faselt vom unbestechlichen Blick der Kamera, die man eben noch mit dem Auge verglich, was, wenn man ehrlich ist, zu den bestechlichsten Organen überhaupt zählt. Es beginnt, kaum sind die technischen Schwierigkeiten handhabbar, die Lagerbildung unter den Fotografen: Sachliche, Surrealisten, Propagandisten, Profis, Amateure, Illusionisten ... man beschimpft einander, und der Diskurs kommt langsam auf Touren.

 

Brauchitsch lässt sich nicht hinreißen. Er verteilt seine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf alle Jahrzehnte und alle Sparten der Fotografie. Er erläutert knapp den jeweiligen Entwicklungsstand, zeigt richtungweisende Bilder, erklärt die Strömungen und Befindlichkeiten der Künstler, erzählt Anekdoten, die er zum Teil leider nicht zu Ende bringt, genauso wie er die theoretischen Überlegungen anreißt, einschlägige Literatur zitiert, um dann abzubrechen und ungerührt ein weiteres Kapitel zu beginnen. Das ist ein wenig irritierend. Andererseits wird im ulkigen Hintereinander theoretischer Gewissheitsanfälle der riesige Rührkuchen Fotografie sichtbar. Man kann in dem Durcheinander, die bis jetzt gemachten Theorien nach Geschmack wählen. „Verkleinerungstechnik“, um Herrschaft über die Welt zu gewinnen oder „heilsame Entfremdung“ von der Welt, „Aneignung“ oder „Verlust der Aura“, und das leckere „Hineinleben in den Augenblick“, man darf wählen wie zwischen verschiedenen geformten Plätzchen, die alle aus demselben Teig gemacht sind: „informierte Gegenstände“.

Man kann unbedingt die „Kleine Geschichte der Photographie“ von W. Benjamin dazu lesen, es dauert nicht lang.

 

Nora Sdun

 

Boris Brauchitsch, „Kleine Geschichte der Fotografie“, Reclam 2002, 257 Seiten, 130 Abbildungen