19. November 2013

Erewhon

 

Der Name dieses nicht sonderlich bekannten Autors hört sich nicht gerade deutsch an, aber Giwi Margwelaschwili wurde 1927 als Sohn eines georgischen Emigranten in Berlin geboren, wo er die ersten knapp zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte. Zusammen mit seinem Vater wurde er 1946 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD entführt, der Vater ermordet, der Sohn zunächst in Sachsenhausen interniert, daraufhin nach Georgien verschleppt. Erst 1987 darf er wieder zurück nach Deutschland, 1994 wird er deutscher Staatsbürger. Seit 2012 lebt er wieder in Tiflis. Dieses Jahr wurde ihm der Italo-Svevo-Preis verliehen.

Das vorliegende Lesebuch verdankt sich dieser Ehrenbekundung. Es versammelt ungedruckte oder bislang nur in Zeitungen und Magazinen publizierte Texte des deutsch-georgischen Autors. Außerdem druckt es die Laudatio von Insa Wilke auf den Preisträger ab sowie dessen Dankesrede. Methodisch geben diese eher kürzeren Texte Margwelaschwilis den bislang bekannten nichts nach. Der Leser ist also wieder mit den absonderlichen Maßnahmen der sogenannten Buch- und Versweltverwaltung konfrontiert, die ihm das Lesen schwer, aber auch (weitgehend) interessant macht. Die textweltlichen Einlegearbeiten des Autors lassen ihn zu dem einzigen noch verbleibenden utopischen Literaten avancieren, denn diese Welten, die hier lesebuchartig präsentiert werden, kann es nicht geben, und doch nehmen wir irgendwie von ihnen Kenntnis.

Es ist ein heikles Spiel, ein ganzes Verfasserkonzept in diesem uneinsehbar limitrophen Gelände zu parken und von dort aus die unwahrscheinlichsten Ausflüge zu machen. Der Autor setzt dabei nicht nur autobiografisch an. Leselebensweltlich steht eine ganze Weltliteratur zur Verfügung, jedes einmal publizierte Buch hat mit dem folgenschweren Problem zu kämpfen: Was geschieht mit dem (Roman- etc.-)Personal, wenn es nicht gerade gelesen wird und in der Bleiwüste der Buchlettern umherirrt? Es ist diese ontotextuale Frage (mit zahlreichen Unterfragen), die Giwi Margwelaschwili interessiert und der er im wahrsten Sinn des Wortes urkomische Seiten abzugewinnen vermag. Der Autor bleibt aber nicht beim gedruckten Wort stehen. Es ist ein erschütternder Gedanke, sich die zahllosen Bilderdepots dieser Welt vor Augen zu führen und die dadurch erzwungene huis-clos-Situation von einem unerhörten Bildersturm begleitet zu wissen. Oder die Grabesstätten zugeschlagener Notenhefte, Partituren, die nicht durch Lesen erlöst werden.

Es gab einmal ein großes und größenwahnsinniges Programm, das aus dem vergangenen Jahrhundert stammt, seine Programmierer wollten Literatur in Leben überführen. Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Die einzige Stelle, der einzige Ort, an denen es heute (und schon immer) zu einer solchen Begegnung von Literatur (oder Kunst) und Leben kommen kann, ist diese von Margwelaschwili in immer neuen Ansätzen versuchte Marginalie, die den Buchstaben von sich selbst befreit und ihm eine wie auch immer ausgedehnte Flugstunde ermöglicht. Noch immer hat der literarische Äther keine Physiognomie. Aber jeder könnte ein wenig dazu beitragen, dass die Luft, in der wir leben, lese-, bild- und notenlebensweltlich gescheiter aussieht.

 

Dieter Wenk (11-13)

 

Giwi Margwelaschwili: Verfasser unser. Ein Lesebuch, hrsg. von Kristina Wengorz und Jörg Sundermeier, Berlin 2013 (Verbrecher Verlag)

 

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