8. November 2013

Olympiade des Geistes

 

Die Figur des Dreiecks eignet sich aus mehreren Gründen gut dazu, Aspekte und Probleme des Kanons – oder wissenschaftlicher, also prätentiöser ausgedrückt: der Kanonizität – zu veranschaulichen. Voraussetzung ist nur, dass die Hypotenuse die Basisfläche abgibt, die Spitze also in die Höhe ragt, und so soll es beim Kanon ja sein, dass das Wertvolle gut zu sehen ist. Ein in die Höhe ragender Strich kann deshalb die Probleme um den Kanon nicht vorführen, weil Wertung nicht polar, sondern triangulär funktioniert. Das gute Werk wird weder von einer Person in die Höhe gestemmt, noch vermag sich das Werk von selbst in die Höhe zu verfrachten, dazu braucht es Schiebung, und die kann nur von der Seite, über die Bande wenn man will, erfolgen. Der Kanon ist ein Teil der transzendentalen bildenden Kunst, er ist ein work in progress, wirkt spröde, weil abstrakt, und seine permanente Modernität liegt darin, dass seine Urheber nicht angeschrieben werden können, eine der Herausgeberinnen dieses Handbuchs, Simone Winko, hat dafür den schönen, von Adam Smith geprägten Ausdruck der invisible hand gefunden.

Das macht den Kanon apart. Wenn es ihn denn, so muss leider doch gesagt werden, gäbe. Denn das Dreieck west schon länger nicht mehr als platonische Idee unter uns, mehr noch, es scheint, als hätte der Wachs- und Wahrnehmungskünstler Anish Kapoor sich dieser Figur angenommen, um ihr unter seinen kapriziösen Versuchsanordnungen die drei Seiten schwer zu machen oder sie genial zu verschatten. Mit dem Kanon verhält es sich wie mit dem immer noch ganz wunderbaren „Fragebogen Marcel Proust“: Man hat beide schon lange nicht mehr gesehen, auch wenn die Frage, auf die beide abzielen (das Beste, das Größte, das Wichtigste) als unvergessliche Frage immer noch virulent ist und wohl immer sein wird, wohl auch, weil kaum noch geglaubt wird, dass das Beste erst noch kommt. Auch dieses Handbuch Kanon und Wertung versteht sich natürlich nicht als (vergebliche) Bastelarbeit. Aus einem Dreieck werden sowieso erst mal ganz viele, da es ja immer noch recht viele Länder und Gesellschaften auf dieser Erde gibt. Jedem und jeder sein und ihr Kanonproblem. Auf dieser lockeren Ebene macht es dann Spaß, sich die namenlosen Sisyphosse vorzustellen, wie sie Werte zu erkennen glauben, wie sie glauben, dass diese Werte wichtig sind und dass es wichtig sei, diese Werte zu vermitteln – eben als Kanon.

Es ist aber die Erfindung von Geschichte und Geschichten, „die dem Kanon sein Tod sind“ (sit venia verbo), anders gesagt, die eine recht unterhaltsame Leistungsschau von Dreiecken oder ihren Überbleibseln zu lesen geben. Die Reise dieses Handbuchs geht also vom Kanon zur Kanonpluralität, und hier wird es nun auch musikalisch interessant, denn dieser Plural kann seinerseits nicht als wohlgeordnete Reihe von Dreiecken verstanden werden, sondern als Verballhornung medialer Effekte, wie sie uns am klarsten in den frühen minimalistischen Stimmregistrierarbeiten Steve Reichs vorgeführt werden, in denen der Transport und die Übergängigkeit von „kanon“ischem Ausgangsmaterial, verschliffenem Echoeffekt und white noise beängstigende Ausmaße annehmen.

Der Kanon ist nicht tot, so muss man unerwartet sagen, aber er lebt anders als gedacht, er ist der virulente Fleck am Dreieck, der es unentwegt in eine Unform bringt, und das ist der Grund dafür, wie es ganz richtig im Handbuch heißt, dass es keine Theorie des Kanons gibt – und, wie sich ergänzen lässt: geben kann.

 

Dieter Wenk (10-13)

 

Gabriele Rippl/Simone Winko (Hrsg.), Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart, Weimar 20013 (J.B. Metzler)

 

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