19. Oktober 2013

Seinszuschmeckung

 

Karl Jaspers hat in seinen Notizen zu Martin Heidegger den vielleicht perfidesten, für manche aber auch äußerst verführerischen Zug der Strategie des Philosophen aus dem Schwarzwald festgehalten: „Dann der Typus: Ganz von vorn anfangen, jetzt beginnt erst die wahre Philos[ophie].“ In der Rückschau mag sich Heideggers Programm der „Destruktion“ der abendländischen Metaphysik wie ein riesiger schwarzer Fleck ausnehmen, an dessen Rändern sich helle Flecken zeigen, ohne sich abzuzeichnen. Wie keine Philosophie vor ihm ist die Heideggers durch Unbestimmtheit charakterisiert, ohne dass damit Kontingenz gemeint sein soll. Sein Denken versucht sich in der Vorbereitung der Dinge, die da zu erwarten sind, und dieser eschatologische Zug ist es, der ihn zuletzt wieder zu einem Theologen macht, der er am Anfang seiner Karriere auch schon war.

Dieses theologisch-philosophische Abenteuer lässt sich natürlich am ausführlichsten mittels der Heidegger-Gesamtausgabe verfolgen. Aber es gibt auch intensive Abkürzungen mit klugen und hilfreichen Wegmarken. Ein solcher Kompressor ist das Heidegger-Handbuch, dessen zweite Auflage, so der Herausgeber, in Teilen einer „Neufassung“ gegenüber der Erstauflage von 2003 gleiche. Das hängt auch damit zusammen, dass nach wie vor Neuveröffentlichungen aus Heideggers Nachlass ins Haus stehen, in dem Zeitraum zwischen Erst- und Zweitauflage wurden insbesondere „größere Abhandlungen aus den späten 1930er Jahren und Seminarnotizen aus den Jahren 1933-1935“ publiziert. Es sind die Jahre der sogenannten „Kehre“, aber natürlich auch die Jahre des Engagements Heideggers für den Nationalsozialismus. In dem Rektoratsjahr 1933/34 bilden der Politiker und der Philosoph Martin Heidegger eine unteilbare Gesamtperson. Das NS-Engagement – ein Betriebsunfall? Wenn Hannah Arendt später dem Philosophen, ihn damit scheinbar entlastend, „moralischen Schwachsinn“ attestiert, so ruft sie damit nur eine Diffamierung in Erinnerung, mit der man noch nach 1900 Frauen intellektuell und moralisch glaubte kalt stellen zu können.

Die viel interessantere Frage ist außerdem, ob die politisch-philosophische Haltung Heideggers sich aus seiner eigenen Philosophie ergab oder eine Position sui generis darstellt. Dieter Thomä, der Herausgeber dieses Handbuchs, der Heidegger insgesamt eher kritisch gegenübersteht, kommt in seinem Artikel über „Heidegger und der Nationalsozialismus“ zu dem Ergebnis, dass das NS-Engagement nicht in direkter Konsequenz von Sein und Zeit (1927) zu sehen sei: Man könne Heidegger nicht auf den Nazismus festnageln, aber gleichzeitig sei die Begeisterung, die über seine Bewunderung von Hitlers Händen weit hinausgehe, kein Versehen. Der Schlüssel des Verständnisses liegt für Thomä in der Aporie von Sein und Zeit, in der Unmöglichkeit, die singularisierende und absolut stellvertreterlose „Jemeinigkeit“ mit der Auslegung des Daseins durch das „Erbe“ in Übereinstimmung zu bringen. Auf der einen Seite ein grandioser Formalismus (den schon Hans Jonas monierte), auf der anderen ein Geschichtsavatar, der nur noch auf Vivifizierung wartet. Thomä versteht das NS-Engagement als einen aus der eigenen Theorie herausgetriebenen „Fluchtweg“ aus der oben skizzierten Aporie, „der Heidegger direkt ,heim ins Reich' bringen wird.“ Auch wenn sich dieser Fluchtweg, der 1933 kein Fluchtweg war sondern eher als ein Königsweg entworfen wurde, als Holzweg entpuppen wird, bleibt festzuhalten, dass Heideggers politische Haltung des Jahres 1933 und seine philosophische Doktrin aus Sein und Zeit kompatibel waren, was nicht sagen will: identisch.

Angesichts der einmal attestierten Schieflage von Sein und Zeit kann dann natürlich nicht mehr von einer „Kehre“ gesprochen werden, sondern allenfalls von einer Gewichtsverlagerung. Der Voluntarismus nimmt ab und macht dem Geschehenlassen Platz. Heidegger ist so unbescheiden, eine neue Phase des „Seins“ mit seiner Philosophie beginnen lassen zu... „wollen“ kann man ja gar nicht sagen, denn es scheint so, als ob Heidegger einen privilegierten Platz einnehmen könne, von dem aus sich beobachten ließe, welche Entwicklungsgeschichte das „Sein“ nähme. Hat das Sein (oder Seyn) eine Geschichte? Was heißt „Seinsvergessenheit“? Man ist hier mitten in der Geschichtsphilosophie, die hier aber so nicht genannt wird. Heidegger teilt mit den Marxisten den vielleicht genialsten Zug der Geschichte des Denkens, nämlich von so etwas wie der „Parteilichkeit der Objektivität“ zu reden (Georg Lukács). Es ist, als ob Immanuel Kant das „Ding an sich“ doch noch hätte anzapfen können oder Johann Gottlieb Fichtes „intellektuelle Anschauung“ den Blick freigeben würde auf die Neigung des Ganzen. Und so darf man sich mit Heidegger vielleicht ganz nah wähnen an so etwas wie einem „zweiten Anfang“, nachdem die Vorsokratiker den ersten Anfang gehörig verpatzt hatten und danach „alles“ in die falsche Richtung lief. Seltsam nur, dass dafür letztlich niemand die Verantwortung zuzuschieben sei, denn es sei, so Heidegger, das Sein selbst, das sich verborgen halte und das „Dasein“ zum Narren.

Kein anderer Philosoph hat so clever das Prinzip Aufschub gehandhabt wie Heidegger. So lässt sich im Prinzip alles kritisieren, was „da“ ist, ohne schon beschreiben zu müssen, wie und was man denn zu verändern habe. Und so wird mächtig am „Gestell“ gerüttelt, aber das „Geviert“ bleibt leer, nachdem man die Götter doch längst vertrieben hatte. Schade übrigens, dass es anscheinend nie zu einer Kooperation des Fettkünstlers Beuys und des „Bauern“ Heidegger gekommen ist; hatten sie sich denn gar nichts zu sagen? Wer aber wichtig war für den Philosophen aus Meßkirch, das wird genau erläutert in diesem großartigen Heidegger-Handbuch. In einem ersten Abschnitt werden die Werke (einschließlich Vorlesungen) Heideggers von verschiedenen Spezialisten vorgestellt, und zwar in chronologischer Reihenfolge, am ausführlichsten bedacht sind Sein und Zeit und Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus. Der zweite Abschnitt stellt „Stichworte“ heraus, ohne deren Kenntnis Heideggers Denken nicht zu verstehen ist, etwa „Seinsgeschichte“, „Ereignis“, „Wahrheit“. Der dritte Abschnitt fokussiert „Kontext und Wirkung“ und dieser Abschnitt gleicht fast einer Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, denn man findet hier Namen wie Jaspers, Carl Schmitt, Wittgenstein, Carnap, die Frankfurter Schule, Ernst Jünger, Löwith, Gadamer, Anders, Hannah Arendt, Blumenberg, Tugendhat, Sartre, Levinas, Merleau-Ponty, Ricoeur, Foucault und viele andere mehr.

Kann es sein, dass diese sensationelle Anschlusskapazität (im positiven wie im negativen) mit jener formalen Seite der Philosophie Heideggers zu tun hat? Dass sie ein fantastischer Projektionsraum ist, in dem jeder seine eigenen Götter und Helden unterbringen kann? Das Handbuch schließt mit einer lesenswerten Chronik, die mit Zitaten Heideggers und seiner Zeitgenossen angereichert ist.

Dieter Wenk (9-13)

 

Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Auflage, J.B. Metzler 2013

 

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