8. Oktober 2013

Special Edition

 

Gibt es die Germanistik überhaupt noch? Oder sind in den vergangenen Jahren noch nicht alle Germanisten, Anglisten, Romanisten einschließlich der Komparatisten dem Shooting-Star-Fach Kulturwissenschaft beigetreten? Es gibt sie noch, aber es ist klar, dass ihr Profil sich in den letzten 50 Jahren erheblich gewandelt hat. Manche fürchteten und fürchten nach wie vor: Wenn denn alles irgendwie „Kultur“ ist, „die“ in der Folge wissenschaftlich untersucht wird, bleibt dann nicht die Literatur im emphatischen Sinn auf der Strecke? Steht die Kulturwissenschaft nicht eben in der Konsequenz der „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“, die einige klarsichtige, manche würden sagen: böse Germanisten 1977 als Programm angekündigt hatten?

Geht man indes in die Zeit zurück, die dem Berufsstand den Namen gegeben hat, so wird man sich wundern, wie das Forschungsfeld vom Präsidenten der ersten Germanistenversammlung, Jacob Grimm, 1846 in Frankfurt am Main gefasst wurde: Es sollte um Recht, Geschichte und Sprache gehen; noch nicht einmal speziell von deutscher Sprache ist die Rede, und schon gar nicht von Literatur oder „schöner“ Literatur. Überhaupt hat die Begründung der Germanistik oder der Deutschen Philologie, wie sie lange im 19. Jahrhundert genannt wurde, bevor sie zur Literaturwissenschaft wurde, wie vieles andere auch mit Napoleon und den Befreiungskriegen zu tun. Das Nibelungenlied wurde zum deutschen Volksepos stilisiert, und die Deutschtumsbegeisterten lasen nicht nur altdeutsche Literatur, sondern ergingen sich auch in körperlicher Ertüchtigung wie der alte „Turnvater“ Jahn, der eben nicht als Literaturforscher bekannt geworden ist. Höhenkammliteratur als Exklave eines sich begründenden Fachs, wenn das mal kein Omen für eine mögliche Zukunft sein sollte. Auf jeden Fall kann man sich Emil Staiger nicht als Völkerball-Spielenden vorstellen.

Das alles und natürlich noch viel mehr lässt sich jetzt in einer dreibändigen kartonierten Sonderausgabe des 2007 erschienenen Handbuchs Literaturwissenschaft nachlesen. In Band 1 werden deren Gegenstände und Grundbegriffe vorgestellt und erläutert. Einblicke werden gewährt in die Gattungstypologie (Epik, Drama, Lyrik), in Stilistik und Metrik; die Welt des Autors als Textinstanz wird dem Leser als rezeptiver Instanz gegenübergestellt, es wird auf die verschiedenen Medien aufmerksam gemacht, in denen und durch die Literatur passieren kann und es wird mehr oder weniger virulentes Kontextualwissen vorgestellt, also z.B. Bildende Kunst, Musik, Politik und Philosophie. Der Band schließt mit einem Blick auf Zensur, Markt und Urheberrecht.

Der zweite Band kümmert sich um Methoden und Theorien. In dem ersten Kapitel zur Editionsphilologie werden Fragen beantwortet wie: Was ist eine kritische, eine historisch-kritische, eine Studien- oder eine schlichte Leseausgabe? Weiter geht es mit der Frage, wie einmal erstellte Texte dann analysiert und interpretiert werden. Und natürlich: Welche Texte werden herangezogen, denn implizit oder explizit handelt es sich dabei immer auch um Wertungen, die auf die Kanonfrage hinauslaufen: Was ist „uns“ wichtig? Diese Frage muss sich natürlich auch die Literaturgeschichtsschreibung stellen und stellen lassen: Was kommt rein, was muss draußen bleiben. Neben die Frage, was gelesen wird oder gelesen werden soll, tritt die Frage, wie das zu geschehen habe: Darf es noch hermeneutisch sein, oder muss man ins strukturalistische Kältebad oder überlässt man sich ganz der ozeanischen Weite de-hierarchisierter Textwelten im Poststrukturalismus?

Zuletzt wird in Band 2 die Literaturwissenschaft mit Nachbardisziplinen oder überhaupt anderen Wissenschaften konfrontiert. Am (vielleicht noch) unergiebigsten stellt sich das Verhältnis zu den Naturwissenschaften heraus (hat man etwas anderes erwartet?). Es ist irgendwie der Einzug der Grobmotorik in das feine Analysearsenal der literaturwissenschaftlichen Dechiffrierkünstler. Aber merkwürdige Dinge geschehen. So wird zum Beispiel der Ansatz der Soziobiologie für die Ästhetik gewürdigt. Ihr Beitrag zu dem, wie man Schönheit verstehen könne, ist beinahe hinterlistig zu nennen. Die Soziobiologie richtet ihr Augenmerk vor allem auf „die Homologien und Analogien von tierischem und menschlichem Verhalten.“ In diesem Sinn definiert sie Schönheit genetisch als „Versprechen von Funktion“: „Beauty experiences are unconsciously realized avenues to high fitness in human evolutionary history“. Karl Eibl, der Verfasser dieses Handbuch-Kapitels „Naturwissenschaft“, lässt sich hier eine Pointe entgehen (oder sie war ihm schlicht nicht wichtig), die möglicherweise den Soziobiologen selbst schon nicht aufgegangen ist, denn es war Stendhal (Henri Beyle), der seinerzeit Schönheit als ein „Versprechen von Glück“ (promesse de bonheur) zu verstehen gab. Da Stendhal immer glaubte, seiner Zeit weit voraus zu sein, darf man annehmen, dass ihn die Zeit nun doch soziobiologisch eingeholt hat. Andererseits muss man sagen, dass Stendhals eigene Kristallisationstheorie jenem Versprechen schnell wieder den Garaus gemacht hat. Textimmanent lässt sich natürlich die soziobiologische Kategorie der Schönheit kaum sinnvoll anwenden.

Aber vielleicht ist ja die Ästhetik der Evolutionären Psychologie ergiebiger. Diese Theorie unterscheidet u.a. in der Tier- und Menschenwelt einen Funktionsmodus von einem Organisationsmodus. Ist der Funktionsmodus aktiv, befindet sich das Lebewesen dabei, Probleme ernsthaft zu lösen. Im Organisationsmodus wird diese Aktivität lediglich trainiert oder simuliert, man prüft, ob alles noch läuft. Ästhetik findet natürlich in letzterem statt, hat also mit Distanz und Distanzierung zu tun: In der erstaunlichen evolutionärpsychologischen Begründung wird gewissermaßen Baudelaire (1) mit Kant enggeführt: „Sogar die pure Lust am Grauen kann im Organisationsmodus genossen werden. Und hier ist auch die biologische Basis aller ,reinen' Kunst, ob es sich um die Ornamentkunst der islamischen Tradition handelt oder um die abstrakte Malerei oder um die ,absolute' Musik: Hier werden unsere Wahrnehmungs- und Ordnungsdispositionen quasi inhaltsfrei in Bewegung gebracht, und die Korrespondenzen zwischen angeborenen Gestalterwartungen und Gestalten erfüllen uns mit Genugtuung oder auch Erregung.“

Band 3 des Handbuchs thematisiert Institutionen und Praxisfelder, am Anfang stehen dabei Genese und Geschichte der Literaturwissenschaft, bevor die Literaturwissenschaft der Gegenwart institutionell vorgestellt wird. Wer nicht recht weiß, was man als Literaturwissenschaftler beruflich anfangen kann, sei auf das Kapitel „Berufsfelder“ verwiesen. Wer nicht gleich Schriftsteller werden will, bekommt immerhin wichtige Hinweise darauf, auf was zu achten ist, wenn man eine Seminar- oder Abschlussarbeit schreibt. Dankenswerterweise ist dieses Handbuch frei von modischer, oft schwer verdaulicher (Pseudo)Fachterminologie, und jeder, sei er vom Fach oder nicht, wird hier etwas finden, was er noch nicht kennt. Am Ende merkt man, dass das Handbuch eine deutsche Produktion ist, denn das Lemma „Autofiktion“ kommt an keiner Stelle vor. In Frankreich wäre das undenkbar, zeigt aber nur, dass diesem Begriff hierzulande kein Glück beschert war.

  1. In einem Artikel zu Théophile Gautier aus dem Jahr 1859 schreibt Baudelaire lakonisch, dass „das Grauen, künstlerisch ausgedrückt, Schönheit werde“. Bei Kant ist an das freie Spiel der Einbildungskräfte zu denken.

 

Dieter Wenk (9-13)

 

Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Sonderausgabe, 3 Bände, Stuttgart-Weimar (J.B. Metzler 2013)