27. September 2013

Sozialistischer Realismus

 

Schlechte Kunst 8

 

„Weit entfernt also, uns über die Rückschritte der Dichtkunst beklagen zu müssen, sollen wir uns vielmehr zu ihnen Glück wünschen.“ (102) Welcher Art sind die „Rückschritte der Dichtkunst“, die in diesem Zitat als Tatsache festgestellt werden? Spricht hier ein verwirrter Dekadenztheoretiker? Oder ein verkappter Hegelianer? Ein gewiefter Dialektiker oder ein abgebrühter Funktionalist? Carl Gustav Jochmann (1789-1830), Autor des obigen Zitats, lässt das vierte Kapitel seiner Schrift Über die Sprache unter dem Titel Die Rückschritte der Poesie – folgendermaßen beginnen: „Es gibt Erscheinungen in der Geschichte des Menschen, die uns auf den ersten Anblick wie Rückschritte desselben vorkommen, und die es an sich und in ihrer Vereinzelung auch wohl sein mochten, die aber im Zusammenhange mit anderen sie begleitenden Umständen, und in ihren entfernteren Beziehungen zu allen Zeiten am unverkennbarsten die Fortschritte unsers Geschlechts beurkundeten.“ (89)

 

Carl Gustav Jochmann tritt in diesem vierten Kapitel nicht als Feuilletonist, Rezensent oder Literaturkritiker auf. Er spricht aus der Warte des Geschichtsphilosophen, der die Dinge von einer anderen, distanzierteren Perspektive aus ansieht oder diese „Dinge“ aus dieser Perspektive allererst entstehen lässt. Jochmann vergleicht, er ist also auch Komparatist, und er bemerkt, dass Erzeugnisse, die den gleichen Namen tragen, zu verschiedenen Zeiten verschiedene Aufgaben hatten. Die (religiöse) Kunst des Mittelalters untersteht anderen Gesetzen als die sogenannte klassische Kunst oder die oft spektakulären Inszenierungen der „zeitgenössischen Kunst“, von denen er natürlich noch nichts wissen konnte. Jochmanns kritische Betrachtungen gehen weniger aus auf qualitative Unterschiede alter und neuer Kunst – insofern gehören Die Rückschritte der Poesie definitiv nicht mehr zur Querelle des Anciens et des Modernes –, als dass sie die Zuständigkeiten der Literatur zu verschiedenen Zeiten untersuchen, die sie sich angemaßt hat oder die ihr zugeschrieben wurden. Zwar noch keine Erklärung für diesen nur massiv zu nennenden Rollenwechsel der Literatur, dafür aber einen ersten Hinweis auf die Verlagerung gibt das folgende Zitat aus dem Anfang des Kapitels:

 

„Ein einziger Blick auf die Gesänge der alten Welt, und auf die geschriebene Dichterei der neueren Völker liefert uns den Beweis, daß die Schritte der letztern auf diesem Wege nichts weniger als Fortschritte waren, daß zu der eingelegten Arbeit unserer geverselten Schriften ältere Fundgruben den Stoff hergaben, daß aus dem hohen Ernste der früheren Dichtkunst ein mehr oder minder offenbarer Spaß, und aus dem Lehrer des Volkes der zeitvertreibende Gesellschafter einiger Leute von guter Erziehung geworden ist.“ (91) Der Hauptpunkt der Kritik – und das zeigt der weitere Verlauf der Schrift – liegt nicht in dem Verwurf an die Neueren, bloße Intarsienarbeiten zu liefern, über das Zitieren nicht hinausgekommen zu sein, sondern im Spaßfaktor der aktuellen Produktion, der andere, wichtigere gesellschaftliche Handlungen verhindere. Carl Gustav Jochmann ist von Uwe Pörksen als „stocknüchterner Protestant“ (217) charakterisiert worden und insofern unterhält dieser Autor nicht die allernächsten Beziehungen zu Unterhaltung, Spaß und Lust; Jochmann will aber gar nicht der Kunst den Spaß austreiben, er behauptet nur, dass dieser Spaß nicht alles ist, er zieht ihm, dem Spaß, eine Grenze und damit auch der Literatur und Kunst. Eine solche Grenze, so die fundamentale Behauptung Jochmanns, existierte in der Frühzeit der Menschheit nicht. Literatur und Poesie besaßen Allzuständigkeit, weil es in dieser mythischen frühen Zeit noch keine Ausdifferenzierung in verschiedene gesellschaftliche Felder gab. In dieser Zeit habe ein „geistiges Universalreich der Phantasie“ (95) geherrscht, gekennzeichnet durch eine „mehr dichterische Beschaffenheit aller Meinungen und Kenntnisse der Menschen“ (92), durch den Mangel an zweckrationalen Verhältnissen und die Dominanz von Rhythmik der Sprache gegenüber klarer prosaischer Zuschreibung. Während früher der „Wahn“ herrschte, der aber als solcher noch gar nicht durchschaut war, habe die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen eine solche Allzuständigkeit überflüssig gemacht; Staffelträger des Fortschritts sei nun die Vernunft.

 

Um nichts weniger geht es als um einen „re-entry“ auf höchstem oder fundamentalstem Niveau oder, wie man auch sagen könnte, um einen Paradigmenwechsel des Ordnungssystems selbst: „Alle gesellige und wissenschaftliche Ausbildung läßt sich als Wiedereinsetzung eines treueren aber langsameren Seelenvermögens gegen die Besitzergreifungen des früher erwachten Dichtergeistes ansehen, jeder ihrer Fortschritte als Eroberung in dem alten Gebiete des letztern, jeder ihrer Siege als erkämpft über einen die Wahrheit verketzernden und eigne Trugbilder heiligsprechenden Wahn.“ (94) Jochmann interessiert nicht eine Diffamierung des Alten ex post; das wäre läppisch und ginge am Problem vorbei. Evolutionslogisch war der Wahn eine Wohltat, es gab nichts anderes, die Priester betrogen noch nicht, weil sie es noch nicht anders wussten. Wenn jedoch das gesellschaftliche setting ein anderes geworden ist, muss sich die alte Kraft nach ihrer möglichen Bestimmung im Neuen befragen lassen, und genau das tut Jochmann in diesem Kapitel. Der Rückschritt der Poesie, der darin verhandelt wird, liegt also auf einer ganz allgemeinen Ebene und auf dieser Ebene setzt Jochmann die Funktion der Poesie neu an. „Die Poesie“, so Jochmanns geschichtsphilosophische These, „hörte auf jedes Fach der Erkenntnis zu umfassen, sobald es in jedem noch etwas mehr als Dichtungen gab, und leben wir nicht länger in einer so poetischen Welt, so leben wir, und eben darum in einer desto reicheren und besser geordneten.“ Es wäre einfach Unfug, die Einbildungskraft noch heute in und mit dem Umfang zu belasten, wie das die früheren Völker aufgrund der Unentwickeltheit der verschiedenen Seelenkräfte oder der evolutionstheoretisch bedingten Ignoranz noch taten und tun mussten: „Die größere Körperfähigkeit roher Völker ist bloße Verschwendung von Zeit und Arbeit in Ermangelung der Mittel beide zu sparen, der höhere Schwung ihrer Poesie ein bloßer Versuch, durch die Einbildungskraft zu leisten, was ihre Vernunft und Erfahrung übersteigt.“ (100)

 

Dichtung, als produktives Organ, übersteigt Wahrheit und Wirklichkeit und kann als ständige Auflagenerweiterung eines Textes verstanden werden, von dem die „Urschrift“ (98) verloren ging. In diesem Sinn ist Jochmann strikt Platoniker, der den Wahrheitsanspruch der Kunst, sollte er immer noch geäußert werden, zurückweist, und er, Jochmann, hält es mit Pierre Bayle, der die Vernunft in erster Linie als Zerstörerin sieht, als Flurbereinigungsorgan, das erst nach seiner kritischen Tätigkeit positive Effekte zu erzielen vermag. Dichtung im alten Sinn, heute, wäre reaktionär und stieße auf keine Akzeptanz: „Kein Heldengedicht macht ferner Glück. Wir überreden uns wohl noch es zu bewundern, und wir bringen es zu Zeiten wirklich dahin, aber desto seltner dahin es zu lesen. (102) Die Bedürfnisse sind andere geworden, und auf den Heldendichter folgt der Geschichtsschreiber. Man kann die Behauptung aufstellen, dass die Frühzeit im Sinne Jochmanns noch gar keine „ästhetische Funktion“ (Jan Muka?ovský) gekannt hat, gekannt haben kann, weil sie die entsprechenden Differenzierungen noch nicht vornehmen konnte. Wer Reim, Metrik und Rhythmus vor allem aus mnemotechnischen Gründen motiviert sieht, muss mit dem Etikett autonome Kunst hintanhalten. Zwei Folgerungen ergeben sich aus der neuen Bedürfnislage des Publikums: Es findet „Ersatz“ für die veraltete Poesie zum Beispiel auf dem Feld der Geschichtsschreibung, die mit der Wirklichkeit glaubhaftere Beziehungen unterhält als die Poesie. Oder es wendet sich „so manchem schlechteren, aber verständlicheren Werke“ zu – verglichen mit „Besserem, das in den Formen vergangener Zeiten“ erscheint –, weil es, das Schlechtere, einfach dem Bedürfnis besser entspricht. (115)

 

Dieser zweite Punkt ist aber nach Jochmann selbst schon ein Produkt der Vergangenheit, denn die Ersetzung von Poesie durch Geschichte scheint eine totale zu sein. Wenn der Rückschritt der Poesie als Diskreditierung insgesamt zu verstehen ist, also nicht nur ihrer misslungenen, schlechten Exemplare, so fragt sich, was aus diesem Leerstand wird. Wird nicht nach wie vor Literatur, Poesie, Kunst produziert? Und zwar als Kunst und nicht länger als mythisches Gedicht? Nach etwa der Hälfte des Essays kommt ein neuer Gedanke ins Spiel. Jochmann trifft eine Unterscheidung, die zu einer grandiosen Rehabilitierung der Kunst, vor allem der Lyrik, führt. Plötzlich ist die Rede vom „eigenen Wirkungskreise“ (108) der Poesie; ihre Berechtigung erfährt sie aus ihrer Beschränkung, aus ihrer Eigenbereichssensibilität: „Wir zeigen (…) einen um so reineren und regeren Sinn für die eigentliche Würde und Schönheit jeder Kunst, je weniger sie uns in einer unschicklichen Anwendung gefällt.“ (108)

 

Der logische Weg Jochmanns führt nach innen, und in diesem präzisen Sinn ist er Romantiker. In der wahren Poesie geht es nicht um wahre Bilder, sondern um wahre Gefühle. An die Stelle des diskreditierten, weil überspannten Wahrnehmungsvermögens, das fahrlässig die Grenzen zu anderen Bereichen überschritten hatte, setzt Jochmann das Empfindungsvermögen, mit dem Dichtung und Kunst konkurrenzlos dastünden. Die Lyrik, die Jochmann besonders hervorhebt, muss sich nicht länger um die Außenwelt oder die „Urbilder“ (111) kümmern, denen gegenüber sie in einem untergeordneten Verhältnisse wäre, käme es auf äußere Übereinstimmung an. Die innere Welt des Dichters ist gewissermaßen absolut und ihr Material, das, von dem sie spricht, bloße Veranlassung; die inneren Vorstellungen, so die Klimax des Arguments, „sind vermöge ihres bloßen Daseins wahr und wirklich zugleich.“ (111) Die Schwierigkeit für den Leser liegt nun darin zu erkennen, wann es zu diesem Austausch der beiden Vermögen, Wahrnehmung und Empfindung, gekommen ist. Ein glatter Bruch oder ein fließender Wechsel?

 

Weder noch, so Jochmann, der sich dieser Schwierigkeit nicht ganz bewusst zu sein scheint, denn für ihn ist die wahre Kunst zeitlos. Jochmann schreibt direkt im Anschluss an das letzte Zitat: „Und in ihrem Gebiete, und nur in ihm gab es von jeher auch für die Dichtkunst eine höchste und selbstständigste Wahrheit, bewährte sie sich naturgemäß als eine schaffende Gewalt…“ Wenn es diese authentische Form der Lyrik schon immer gegeben hat, muss es in den frühen Zeiten, von denen Jochmann in der ersten Hälfte des Essays sprach, so etwas wie eine Parallelwelt der Dichtung gegeben haben: die große, alles erklärende (die dann später von der Vernunft zerfetzt wird), und die gemüthafte, in der sie „nicht Bilder des Lebens nur, sondern das Leben selbst“ (111) schuf. Jochmann erfindet einen unmöglichen „re-entry“, denn er führt eine Unterscheidung (echte Kunst) in die damalige, archaische (Gesamt)Kunst ein, die diese Unterscheidung nicht kennen kann. Was immer man dazu sagen mag, interessant ist Jochmanns Zitat schon allein deshalb, weil es im Kern einen Gedanken trägt, den Schopenhauer ziemlich zeitgleich stark gemacht hat, nämlich den von der Musik als Wahrheitsträger der Kunst.

 

Carl Gustav Jochmann wäre aber kein aufklärerischer, ja progressiver Schriftsteller, würde er es bei dieser Akklamation des Gemüthaften bewenden lassen. In erster Linie geht es ihm nicht um die Klasse künstlerischer Produktion Einzelner auf dem von ihm favorisierten Feld einer „Poesie des Gefühls“ gegenüber der deklassierten „Poesie der Anschauung“ (121), sondern um die insgesamt freiere Entwicklung einer Gesellschaft. Und „Alteuropa“, im Gegensatz zur Neuen Welt, gibt in dieser Hinsicht kein gutes Bild ab, es hemme und verhindere, lasse keinen Gemeinschaftsgeist entstehen. Fortschrittshemmend sei auch die Kunst, denn sie funktioniere wie ein Ventil, über das man umso mehr Druck ablassen könne, je trauriger die Verhältnisse seien. Hauptangeklagter ist erneut die Phantasie, doch diesmal in einem moderneren Sinn: „Aber es gibt noch einen andern Zustand, in welchem die Phantasie auf ähnliche Weise übermächtig vorwaltet, nicht weil sie das einzige wache, sondern weil sie das einzige freie Seelenvermögen ist; in welchem andre Kräfte wohl auch geweckt sind, aber in Banden liegen; in welchem die wirkliche Welt mit allen ihren Schätzen und Wahrheiten uns nicht länger unbekannt, aber verschlossen bleibt…“ (123)

 

Eine solchermaßen geschürte Phantasie führe auf gewissermaßen gesellschaftlich erzwungene Abwege, aus der reichen wird eine „kranke“ Phantasie, die rein immanent gar nicht zu kritisieren sei: „Eben die schönsten Blüten einer sogenannten höheren Ausbildung sind unter solchen Verhältnissen vielmehr Notbehelfe der verkrüppelten Gesellschaft…“ (123 f.) An die Stelle einer durchaus möglichen phantasiereichen, produktiven Gesellschaft tritt eine kompensationssüchtige fluchtbereite phantastische. Wenn sich das geistige Leben „zu einem einzigen großen Gedankenfasching“ (127) gestalte, könne von den hochgepriesenen schönen Künsten nicht mehr die Rede sein; Jochmann spricht deshalb von den „sogenannten schönen Künsten“ (131), die in einer Art Übersprungshandlung konsequent einer echten Zeitgenossenschaft aus dem Wege gingen. Von den Künsten bleibt am Ende nicht viel übrig, im wahrsten Sinn des Wortes: „… und heute noch gibt es vielleicht kaum zwei oder drei der gepriesenen Blüten unsrer Poesie, die nicht, in ihre Bestandteile zersetzt (…), als ekelhafte Gemische von Selbsttäuschung und Schmeichelei, als Vergötterung eigner und fremder Nichtswürdigkeiten vor uns daliegen würden.“ (131)

 

Das hört sich brutal an und ist wohl auch so gemeint, denn Carl Gustav Jochmann weiß letztlich mit der Poesie, Dichtung oder Kunst nicht viel anzufangen, sie sind insgesamt schlecht, im besten Fall überflüssig. Eine Textstelle stützt diese Sichtweise. Es geht dort um die De- und Remontage der Einbildungskraft, die vom bloß ästhetischen Feld abgezogen werden soll, um als freigewordene Kapazität der Gesamtgesellschaft zur Verfügung zu stehen: „Dahin aber (…) führen uns keine Handbücher der Geschmackslehre, sondern einzig und allein Entwickelungen unsrer gesellschaftlichen Formen, die mit den wichtigsten Wahrheiten der Staatswirtschaft und mit ihrer Anwendung im genauesten Zusammenhange stehen.“ (130)

 

Am Ende seines Essays lässt Carl Gustav Jochmann zwar den Dichtergeist noch mal auftreten, in der Hoffnung, er möge sich in die Höhe schwingen. Aber die Reise der Kunst geht doch in eine andere Richtung, Kunst wird zum Epiphänomen, nachdem sie am Anfang Totalphänomen war, sie wird den fortschreitenden und fortschrittlichen Gang der Gesellschaft in Jubelgesängen orchestrieren, sie wird, mit einem Wort, emphatische Inkarnation des Sozialistischen Realismus, auch wenn das Wort erst ein Jahrhundert später erfunden wird: „Andre Früchte würde die Muße einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft hervorbringen, als jener mühselige Müßiggang unsrer bürgerlichen, den wir Gelehrsamkeit nennen, anders müßten die Triumphgesänge des fortschreitenden Glückes lauten, als die Seufzer der unbefriedigten Sehnsucht, anders die Jubellieder des befreiten Prometheus, als die Klagen des gefesselten.“ (132)

 

Dieter Wenk (6-13)

 

Carl Gustav Jochmann: Politische Sprachkritik. Aphorismen und Glossen, hrsg. von Uwe Pörksen, Stuttgart 1983 (Reclam)

Die obigen Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.