Die menschliche Dimension
In jedem Tier steckt ein Mensch, der einen auslacht. Lycaon wird durch Jupiter zum Wolf. Actaeon durch Diana zum Hirsch. Daphne durch Peneus zum Lorbeer. Battus zum Stein. Narcissus zum Krokus. So ist es in Ovids Metamorphosen zu lesen. Bei den Grimms werden aus sieben Brüdern sieben Raben. Und Evoli verwandelt sich in einen Diamanten, eine Perle, in Platin oder in eine Pflanze namens Folipurba. Evoli ist ein Pokémon. Verwandlung heißt das Gesetz des Lebens. Und kaum habe ich mich an mein eigenes Gesicht gewöhnt, ist es auch schon wieder verschwunden. Es geht ums Sein, den Wertewandel und die Verwandlung. Darum ging es auch Karl Marx, wenn durch Kultur und Arbeitskraft z.B. aus Lehm Porzellan, aus Porzellan ein Pissoir, das zu Geld, und das Geld zu Kapital wird. Dann wird das Pissoir signiert, z.B. von Marcel Duchamp und unter Umständen wird dann Kunst daraus. Das Kunst-Ding Pissoir wird wieder zu Geld und anschließend zu Kapital. Geld ist also ein Treibstoff für Arbeitskraft, die Dinge schafft, deren Wert immer wieder neu verhandelt werden muss. Dabei gibt es Dinge, schreibt René Magritte, die ohne Namen auskommen. Meint er damit Bilder – oder gar Sinnbilder? Vielleicht solche, wie sie der französische Zeichner Jean Ignace Isidore Gérard, genannt J.J. Grandville, 1803 bis1847 schaffte, über den dessen Zeitgenosse, der Lyriker Charles Baudelaire, schrieb: „Dieser Mensch hat mit übermenschlichem Mut sein Leben damit verbracht, die Schöpfung zu verbessern. Er nahm sie in seine Hände, drehte sie herum, rang mit ihr, legte sie aus, und die Natur verwandelte sich zur Apokalypse.“ Und dem Walter Benjamin in seinem posthum erschienenen Passagenwerk einen Essay widmete, in dem er seinen Gedankenbogen von der Erde bis in den Kosmos spannt. Dort heißt es: „Grandvilles Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Universum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird zum gusseisernen Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luft schöpfen“. Grandville kultiviert, nach Benjamin, also das Universum...mit Hilfe des Waren-Fetischismus, der „dem Sex-Appeal des Anorganischen unterliegt“ und das, so Benjamin weiter, „…ist [sein] Lebensnerv.“ Jahre später widmet sich auch der marxistische Philosoph Ernst Bloch in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung (1954–59) dem Phantasten Grandville und dessen Erfindungen, obwohl er ihn zunächst als „wagemutig reaktionären Spieler“ bezeichnet. Reaktionär, da er bei ihm nichts Zukunftsweisendes zu entdecken vermag. „Kühner wird der Witz, wenn er Neues selber schnöde vormacht. Wenn er gar mit dem Dunkeln darin spielt und es in ein prickelndes Grauen auflöst.“ Und weiter: „Jedes dieser Bilder karikiert, überzerrt die Mittel, die Menschen durch Technik glücklich zu machen.“ Womit Bloch seinen eigenen Technikglauben beschreibt. Und worauf seine Bewunderung für Grandvilles Mischung aus Spaß und Schrecken folgt, der letztendlich „schwer bei zu kommen ist“. Heißt: dass Grandville noch immer lebendig ist. Auch wenn Baudelaire ihn schon zu Lebzeiten, anders als den von ihm verehrten Karikaturisten Honoré Daumier, als minderwertigen Illustrator abkanzelt, indem er schreibt, Grandville sei „…ein auf krankhafte Weise literarischer Geist, der immer um unzulängliche Mittel bemüht war, mit denen sich seine Gedanken in den Bereich der Bildenden Kunst übertragen ließen; weshalb wir ihn denn auch des Öfteren das alte Verfahren anwenden sahen, das darin besteht, seine Gestalten mit Spruchbändern auszustatten, die ihnen aus dem Mund hängen.“ – Sprechblasen nennen wir diese Bänder heute. Und bis heute wird die sogenannt „autonome, oder freie Kunst“ gegen das Narrative, gegen Illustration und Comic ausgespielt.
Und noch immer ist J.J. Grandville unverschämt lebendig. Nur leider nicht in dem gleichnamigen Comic von Bryan Talbot (Grandville De Luxe, Schreiber & Leser 2013). In dem ein Dachs, Inspector Archibald, einem Mordfall im Boheme-Milieu einer futuristischen, von Tieren regierten Maschinenwelt im Belle Époque-Stil, nachgeht. Im Anhang des als Retro-Utopie untertitelten Comic bezieht sich Talbot explizit auf J.J. Grandville als Inspirationsquelle. So spielt die Geschichte auch zu dessen Lebenszeit, in der die Klassische Moderne die Salon-Malerei als bildgebendes Medium ablöste. Ein interessantes Setting. Doch leider begegnen einem in der Geschichte zu viele unerträglich falsche, altbackene und verhärmte Plattitüden ästhetischer und rassistischer Art: so wenn vom Dachs als „ehrenwerte Rasse“ gesprochen wird. Dazu kommen Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit abstrakter Malerei, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Das gipfelt im Appendix in die schwachsinnige, leider auch ernst gemeinte, Behauptung, dass Millionäre bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die figurative Malerei gezielt unterdrückt hätten. Wie am Beispiel von Diego Riveras von der Rockefeller-Familie zensiertem und übermaltem Wandbild im New Yorker Rockefeller-Building. Zusätzlich versteigt Talbot sich in die Verschwörungstheorie, dass die CIA den abstrakten Impressionismus (was immer das sein soll) unterstütze, da dieser für das freie Unternehmertum stünde. Spätestens da wird deutlich, dass in Talbots Hirn einiges durcheinandergeraten ist, und er einfach nicht mehr ernst zu nehmen ist – und das sollten auch seine Verleger und Übersetzer tun. Doch das kann dem echte Grandville-Fan egal sein, in dessen aufgeklärtem Märchenherzen Jean Ignace Isidore Gérard, genannt J.J. Grandville, für immer leben wird.
Christoph Bannat
Bryan Talbot: Grandville De Luxe, Schreiber & Leser Verlag 2013, 24,80 Euro
Alle Abbildungen von J.J. Grandville entstammen dem Buch: Grandville, Eine andere Welt, Diogenes 1979