20. Dezember 2003

Geburtsurkunde

 

Liest man diesen Künstlerroman aus dem Jahr 1886, wird einem klar, dass die um 1800 erreichte Autonomisierung der Kunst nicht notwendigerweise einschließt, dass sich ein Kunstwerk nur durch sich selbst autorisiert. Noch Kant musste den Geniebegriff wieder so weit zurückfahren, dass er mit der Natur und einem allgemein zu unterstellenden Geschmacksbegriff konform ging. Das ist die uninteressante Seite von Kants Schönheitsbegriff. Die Romantiker gingen dann auch konsequent über diese Interesselosigkeit hinweg. Ihnen gingen dann aber die Gegenstände aus oder sie ließen sie zurück, um sich nur noch mit sich selbst kurzzuschließen.

Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Was aber konnten sich Maler dann zum Vorbild nehmen, wenn ihnen  die Überspanntheit nicht mehr zusagte, ihnen aber auch kein Akademismus mehr genügte? Einmal mehr – Natur. Verstanden als wahrhaftiges Erfassen des Gegenstands, wo dieser sich auch befinden möge, in der Natur oder in der Stadt. „Das Werk“ kann als Schlüsselroman des beginnenden und tragisch endenden Impressionismus gelesen werden. Eine Gruppe von jungen Leuten, die alle mehr oder weniger aus Plassans stammen, dem Geburtsort dieser Mammut-Romanreihe der „Rougon-Macquart“, sehen sich in Paris als Künstler wieder und haben viel vor. Die Maler und Bildhauer, allen voran der Romanheld Claude Lantin, wollen zwar in den offiziellen, jährlich stattfindenden Salons ausstellen, aber nicht mit Werken klassischen Plunders. Genau das ist aber die Eintrittskarte, mit der der Künstler den Grundstein zu großem gesellschaftlichen Erfolg legen kann. Je mehr er im Rahmen bleibt bei vorausgesetztem technischen Können, umso größer die Aussichten, anerkannt zu sein. Wer nicht aufgenommen wird, den verweist die Jury in den Salon der Ausgeschlossenen, in dem die Gescheiterten ihrerseits die Richter richten dürfen. Claude gehört notorisch zu den Gescheiterten. Der Rückhalt in der eigenen Gruppe ist gleichbedeutend mit der Ablehnung durch den offiziellen Geschmack.

Mit der Zeit bröckelt die Gruppe auf, die einen passen sich an, werden reich, einflussreich, Claude glaubt an sich, an seine Vision, die er doch nicht umzusetzen vermag. Die Leinwand bleibt ein grausames work-in-process. Claude nabelt sich ab, von den Freunden, wenn diese nicht selbst schon den Schritt getan haben, von seiner Frau Christine und seinem Kind, die ihm ausschließlich als Modell dienen und ein unerträgliches Schattendasein führen. Kunst und Leben schließen sich aus. Künstlerische Arbeit gebiert den Tod, sei es als langweilige akademische Kost, sei es als Werk, das die Lebenden auffrisst und unabschließbar ist, weil es noch einem ebenfalls überkommenen Repräsentationsideal folgt, das erst nach dieser Katastrophe, die der Impressionismus schließlich war, verabschiedet wird. Ein Maler kann auf sein Scheitern mit Anpassung oder mit Selbstmord reagieren. Eine Frage der Ehre, aber vielleicht auch eine des Grades an Irresein.

Ein Schriftsteller hat es da vermutlich einfacher. Er kann sich zum Beispiel sagen, dass er eine ganze Serie von Romanen, wie in diesem Roman der Autor Sandoz, in dem man Zola wiedererkannt hat, schreiben wird, und mit diesem zeitaufwendigen Projekt entfällt ja schon mal ganz entschieden der Druck, der auf einem einzigen Werk liegt, das auch noch mit dem Anspruch auftritt, die Welt, oder etwas schlichter, Paris zu zeigen, wie es ist. Zola ist so klug, sein eigenes Scheitern immerhin stellvertretend zu bekennen. Ein Roman, oder auch zwanzig, verbessern nicht die Welt. Der Autor und sein Roman wissen es auch nicht besser. Sie schauen vielleicht nur aus einem anderen Winkel. Und der Leser wird dann sagen, dass er zu spitz oder zu stumpf war. Man kann es auch so sagen: Auch Zola hat die Romantik nie wirklich überwunden. Also den Glauben an die Kunst. Er ist zäh, zäher als das Leben.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Emile Zola, Das Werk, München 1976</typohead>