18. August 2013

Lauschangriff

 

„Dem Telefon zufolge (denn vielleicht habe ich doch einmal mitgehört, ich Verräter!) ist die Schaltstelle Europa gar kein Nest aus Nationen, sondern ein offenes Gelände aus schwarzen Ikonen und Uhren mit Goldrand, dessen zufällige, ewig angefochtene Gebietsgrenzen (im wesentlichen alte Schutzwälle aus der Römerzeit) ganz nach unseren Wünschen übermalt werden können; Gauleiter und Kommissare kochen sie zu grau gepunkteten Linien herunter, für Polizeikräfte angenehm durchlässig.“ (S. 14)

 

Europa als Schaltstelle? Der Zweite Weltkrieg eine abgehörte Telefonkonferenz? Mit seinem 2005 veröffentlichten und nach mehreren gescheiterten Übersetzungsanläufen von Robin Detje nun endlich auch ins Deutsche übertragenen Roman Europe Central scheint William T. Vollmann den Nerv der Zeit zu treffen. In seinem monumentalen, ja fast überdehnten Epos berichtet er nicht nur über die großen Schlachten des Zweiten Weltkriegs zwischen Russland und Deutschland, sondern zeichnet auch ein weitläufiges Netz von Interdependenzen, geheimen Verbindungslinien und verwobenen Einflussbeziehungen. Wie mit der Metapher der Schaltstelle schon angedeutet, kann alles mit allem zusammenhängen, jeder Anschluss mit jedem verbunden und kurzgeschlossen werden. Mit diesem an Spionage und Abhöraktionen erinnernden Assoziationsraum denkt Vollmann den Zweiten Weltkrieg bzw. aus russischer Perspektive gesprochen den Großen Vaterländischen Krieg von seinem unmittelbaren Nachfolgekonflikt, dem Kalten Krieg, her. Dass dessen Logik, wie wir mittlerweile alle Grund haben zu vermuten, bis in unsere unmittelbare Gegenwart hineinwirkt, macht Vollmanns von Querverbindungen und Mustern besessenen Roman auf beunruhigende Weise aktuell.

 

Vollmann nimmt das Bild der Schaltzentrale, dem durchaus verschwörungstheoretisches Potenzial innewohnt, vollkommen ernst und forscht in seiner von Fußnoten, Kommentaren und historischen Nachweisen durchpflügten Erzählung nicht nur bestehenden Verflechtungen nach, sondern konstruiert d.h. erfindet diese auch selbst. Er übernimmt damit nicht nur die Aufgabe der Rekonstruktion und verfolgt die einzelnen Stränge des Kabelbaums durch das Labyrinth hindurch zu ihren Steckverbindungen, er ist vielmehr aktiver Vermittler und verbindet Anschlüsse miteinander, zwischen denen zuvor keine Verbindung bestand. Er ist nicht nur Geschichtenerzähler, sondern will diese aktiv gestalten: Anschluss gibt es bei Vollmann damit unter jeder Nummer, alles hängt mit allem zusammen oder wird zusammenhängend gemacht, so wie die von ihm frei erfundene Dreiecksbeziehung seiner Protagonisten Dimitri Schostakowitsch, Roman Karmen und deren gemeinsamen Geliebten Elena Konstantinowskaja. Daneben tauchen in den 37 als „Zangenangriffe“ geführten Kapiteln Käthe Kollwitz, General Andrei Wlassow, General Friedrich Paulus, SS-Obersturmführer und Hygienebeauftragter Kurt Gerstein, die DDR-Schauprozess-Richterin und mit Walter Benjamins Bruder Georg verheiratete Hilde Benjamin sowie viele weitere reale und fiktive Personen auf. Erzählt werden ihre Geschichten diskontinuierlich, fragmentarisch, aus verschiedenen – teils klandestinen – Perspektiven von Sympathisanten, Verrätern, Spitzeln und geheimen Mithörern. Vollmann bildet dabei stets Gegensatzpaare, stiftet Symmetrien und Dichotomien, vermittelt und provoziert Konflikte.

 

Europe Central ist somit nicht nur ein historisch-poetischer Großentwurf über die Geschichte Zentraleuropas vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg und führt dem folgend nicht einfach Tolstois Programm aus Krieg und Frieden für das 20. Jahrhundert weiter; es ist vielmehr eine Reflexion auf die immer komplexer werdenden Systembeziehungen des als Schaltzentrale interpretierten Machtgefüges Europa. Die Kontinuitäten und Querverbindungen zieht Vollmann dabei nicht geradlinig, sondern wild wuchernd, in Gestalt des von Deleuze/Guattari beschriebenen Rhizoms; er verfolgt dessen Ausläufer und Knotenpunkte von der Vorkriegszeit bis in den Kalten Krieg, von Ost nach West und von Liebespaaren zu Todfeinden. Dabei macht Europe Central jedoch nicht den potenziell geschichtsrevisionistischen Fehler, Kriegsgräuel gegeneinander aufzuwiegen und Symmetrien des Schreckens einander aufheben zu lassen, sondern sucht auf beiden Seiten nach den individuellen Beweggründen der Akteure jenseits der Ideologie. Hierbei zeigt sich, dass die einfache Unterscheidung in Freund und Feind bzw. Gut und Böse meist nur oberflächliche Gültigkeit für sich beanspruchen kann. Diese Ambivalenzen kontrastieren die Gegensatzpaare der Protagonisten, ziehen sich teils mitten durch sie hindurch und legen damit ihre zwischenmenschlichen Konflikte wie auch ihre innere Zerrissenheit schonungslos offen. Mit seiner nach Systemen, Mustern und Strukturgesetzen suchenden Erzählform reflektiert Vollmann hierbei auch über das Denken im 20. Jahrhundert, das sich von wissenschaftlichen Großsystematisierungen und Universalerklärungen hat leiten lassen – die strukturale Linguistik oder Luhmanns Systemtheorie wären nur zwei Beispiele dieser Obsession.

 

Obgleich der Roman von den eigentlich starren Frontverläufen und Kampfzonen des Zweiten Weltkriegs sowie der bipolaren Ordnung des sich entwickelnden Kalten Kriegs berichtet, vollzieht seine diskontinuierliche und episodische Erzählstruktur, die immer wieder in neue Kanäle und Leitungen hineinlauscht, eine Bewegung nach, die sich diesen klaren Demarkationslinien entzieht. Europe Central ist ein Gewimmel von Stimmen, von denen einige lauter sind als andere, die jedoch nie zusammen in einen gemeinsamen Chor einstimmen. Dennoch bleibt Europa für Vollmann eine Symphonie: Wiederholt beschreibt er Landschaften, Stimmungen, aber auch politische und militärische Szenen mit Schostakowitschs Werken, erkennt die Geschichte in den Themen, Melodien und Arrangements, vergleicht Schlachten mit Sätzen und vertauscht deren Dramaturgien miteinander. Schostakowitsch ist dabei im Roman gleich in mehrfacher Weise präsent: als Protagonist wie auch als eine Art Geschichtsorakel, das den Atem der vergangenen Zeit in seinen Konzerten für die Nachwelt konserviert und erfahrbar gemacht hat. Diese Rolle übernimmt er nicht zufällig, schließlich wurde Schostakowitsch während des Kriegs von Stalin selbst in die Pflicht genommen, Russland mit Programmmusik als Ideologiewaffe zu versorgen – eine Aufgabe, der der Künstler nur widerwillig nachkam. Vollmann spürt diesen ideologischen Spuren in den Symphonien nach, versucht die in Noten übersetzten Durchhalteparolen wieder in Sprache rückzuübersetzten, entlarvt sie dadurch jedoch nicht, sondern verweist auf ihr ästhetisches Potenzial, das er mit seinen Worten wieder zu reanimieren versucht.

 

Was soll man über einen Roman schreiben, in dem schon alles steht? Wie ein Werk bewerten, das mit seinem akribischen Recherche- und Dokumentationszwang einen ganzen Apparat an Endnoten bereithält, um den Ungläubigen die Authentizität der eigenen Fiktionalisierung jederzeit beweisen zu können? Genau wie die Grenzen Europas in Vollmanns Roman zu „grau gepunkteten Linien“ (s.o.) verschwimmen, so lösen sich in Europe Central die Grenzen zwischen Realität und Fiktionalität zunehmend auf. In der Geschichte bilden die Geschichten und Erzählungen Metastasen aus, wuchern wild und befallen unsere sicheren Gewissheiten. Sie vernetzen ihre Erzählstrukturen und kleinen Anekdoten mit den historischen Ereignissen, die alle in der Schaltzentrale Europa zusammenlaufen – es ist unbedingt empfohlen, sich in dieses System einzuklinken und abzuhören!

 

Patrick Kilian

 

William T. Vollmann: Europe Central, Berlin (Suhrkamp-Verlag) 2013; aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje, gebunden 1028 Seiten, ISBN: 978-3-518-42368-4

 

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