7. Juli 2013

Besserwisser

 

Schlechte Kunst 7

 

Wenn man etwas ungefragt zugeschickt bekommt, muss es sich dabei nicht gleich um einen Werbeprospekt im landläufigen Sinn handeln. Diejenigen, die zwischen 1954 und 1957 auserwählt waren, ein seltsames Bulletin mit dem Titel Potlatch im Briefkasten zu finden, waren den Herausgebern als mögliche Prätendenten erschienen, an einem anspruchsvollen Projekt mitzuwirken, das sich nicht weniger als die Errichtung einer „Neuen Zivilisation“ vorgenommen hatte. Potlatch war drei Jahre lang und in 29 Ausgaben – zunächst wöchentlich, dann monatlich, dann unregelmäßig erscheinend – das Zentralorgan der „Internationalen Lettristen“, einer Formation, die Ende der 50er Jahre aufgehen sollte im „Internationalen Situationismus“.

 

Potlatch war ein Geschenk, man konnte es nicht am Kiosk kaufen, aber man konnte es weitergeben, man sollte darüber reden, es sollte sich eine verschworene Gemeinschaft bilden in der vermeintlichen Gewissheit, dass die eigentlichen Entscheidungsträger einer Zeit zahlenmäßig sowieso sehr begrenzt seien. Eine neue Aristokratie sollte also herangebildet werden, diesseits und jenseits der Funktionsräume der bestehenden Gesellschaft, und die Macher des Bulletins führten symptomatisch vor, wie man sich die neue Haltung dachte. Keine Diskussionen, keine Kompromisse, kein Respekt, eine manichäische Aufteilung der Welt in „sie“ und „wir“. Viele Mitglieder der Loge hielten das nicht aus und wurden ausgeschlossen; Gründe? Zu infantil, dumm, bourgeois, privat, individualistisch…

 

Wenn Potlatch „absolut neue Haltungen“ forderte, bezog es sich natürlich auf Rimbaud, und wenn es nur das akzeptierte, was mit dem „Versprechen nach Glück“ auftrat, so stand Stendhal Pate. Ein paar weitere tolerierte Gestalten der Weltgeschichte waren Ludwig II., Richard Wagner, Kurt Schwitters, der Briefträger Cheval und Roger Vailland. Ansonsten griff man so ziemlich alles an, was kulturell angesagt war, also in Sachen (angeblicher) Avantgarde. Da Potlatch der Überzeugung war, dass „Avantgarde ein gefährliches Geschäft“ sei, war es ein einfaches Spiel, dem kulturellen und künstlerischen Zeitgeist und seinen Vortrupps Risikolosigkeit nachzuweisen, was zum Beispiel besonders die Surrealisten um André Breton zu spüren bekamen, aber auch die abstrakten Maler (wer malte in den 50ern nicht abstrakt?), die informellen Maler und schließlich auch die neuen Romanciers um Alain Robbe-Grillet. All das war keineswegs angetan, den „Kreislauf zu stören“, es bestätigte ihn vielmehr, für jedes vermeintlich noch so moderne und radikale Objekt fand sich ein Käufer und Interessent, wo es doch darum gehen sollte, mittels „Projekt-Objekten“ eine „Aktion höheren Typus‘ einzuführen, die Totalität des Lebens betreffend“.

 

Eine so übersichtlich gestaltete Welt in Freunde und Feinde zieht natürlich eine ebenso übersichtliche Klassifizierung dessen nach sich, was gut und was schlecht ist. Überall sieht Potlatch „miserable Resultate“ von kulturellen Erzeugnissen, im Grunde ist schon vorher klar, dass ein Festival „schlecht sein wird“, da der Zusammenhang bekannt ist, in den die Elaborate eingepasst sind. Wie die Futuristen 40 Jahre zuvor fordert die Bande um Guy Ernest Debord die Zerstörung der Museen, neu ist allerdings, dass man die Meisterwerke retten möchte, aber nicht, um sie in Potlatch-Museen erneut aufzustellen, sondern um sie für Bars und Kneipen verfügbar zu machen. Die wichtigsten strategischen Konzepte der späteren Situationisten kennen schon die Lettristen, es geht um Lust, Spiel, Ziellosigkeit, das Aussetzen von Maßstäben, die Überwältigung und die Permanenz der Haltung. Lettrist, Situationist sind keine Berufe, auf die man sich bewerben kann, hier macht die „Natur“ wirklich einen Sprung und man ist dabei, aber vielleicht genauso schnell wieder draußen. Man ist nicht attentistisch, die Frage nach dem „richtigen“ revolutionären Moment ist eine falsche Frage, Potlatch ist erbarmungslos konstant und rücksichtlos, und wenn jemand auf einen Meister warten sollte (die Geschichte vielleicht selbst), so wird eine solche Einstellung begrifflich härtest sanktioniert. In Erwartung eines Meisters sei, wer eine „passive faschistische Tendenz“ zeige. Gut zehn Jahre später wird ein schräger Kopf, der sich seine Anti-Haltung jedoch sehr gut bezahlen lässt, den unruhigen Studenten entgegenrufen, sie seien auf der Suche nach einem Meister. Sarkastisch verkündet er: „Ihr werdet ihn bekommen“. Vor die Wahl gestellt, bekommt man dann doch lieber ungefragt Post, die kann man immerhin selbst entsorgen.

 

Dieter Wenk (6-13)

 

Guy Debord présente Potlatch (1954-1957), Édition augmentée, Paris 1996 (Éditions Gallimard)