7. Juli 2013

„Chlorreiche“ Zeiten

 

Endlich. Er ist tot. Am 20. Juli 1915 schreibt Erich Mühsam in sein Kriegstagebuch, Heft 14: „Telegramm aus Lübeck (aufgegeben 11 Uhr): Papa sanft entschlafen. Beerdigung Freitag. Leo.“ Der Mann, der so offensichtlich nicht sterben konnte und wollte, ist nun nicht mehr da. Der Sohn hatte die Hoffnung auf den baldigen Tod des Vaters und damit auf baldige Erbschaft fast schon aufgegeben. Einen knappen Monat vorher, am 23.6. 1915, vermerkt Erich einen Traum, der das Vater-Sohn-Verhältnis auf den Punkt bringt: „Mir träumte vor Jahren einmal, ich ließ den Vater ärztlich untersuchen. Eine ganze Ärztekommission unterzog sich der Aufgabe. Ich erwartete im Nebenzimmer das Resultat. Als die Kommission eintrat, verkündete mir ihr Wortführer, ein weißbärtiger Gelehrter: ,Die genaue ärztliche Untersuchung Ihres Vaters hat ergeben, daß er der ewige Jude ist.‘“

 

Im Grunde stimmt der Traum, denn die väterliche Gewalt geht auch nach dem leiblichen Tod weiter. Die väterlichen Testamentsverfügungen sind grotesk und demütigend, der Ausbruch des ungezogenen Sohnes in die flatterhafte Boheme soll rückgängig gemacht werden, auch soll der Sohn nicht irgendein Flittchen heiraten, sondern bitteschön eine Jüdin. Der Sohn ist ratlos. Aber wenig kompromissbereit und -fähig. Er bekommt also nur den Plichtteil des Testaments ausgeschüttet, der Dalles kann unter diesen Umständen nicht in die Wüste geschickt werden. Und so bleibt (fast) alles beim alten, der Krieg geht weiter, die Geldsorgen nehmen nicht ab, die Arbeitsfähigkeit leidet.

 

Nur auf einem Gebiet klären sich die Verhältnisse. Nach dem Tod des Vaters und dem Ende eines nur noch vage bestehenden Verhältnisses zu einer jungen Frau heiratet Erich Mühsam. Er scheint glücklich. Manchmal hat man den Eindruck, dass er sich das mittels seiner Tagebucheinträge auch ein wenig einreden möchte, denn noch im selben Jahr lernt Mühsam eine Frau kennen, mit der er ein sexuelles Verhältnis wenn nicht realisiert so doch wünscht, als Konkubine zur lieben Gattin. Es ist nicht leicht, aus Erich Mühsam einen braven Bürger zu machen. Mühsam liest täglich vier Zeitungen. Eine kritische, eine vaterländisch eingestellte, eine lokale und eine internationale. Das sieht nach strategisch ausgerichteter Kriegslektüre aus, von der sich Erich Mühsam irgendwie einen Wahrheitskern erhofft. Der Tenor für den Westen: nichts Neues. Für den Osten: Langsam gleichen sich die östlichen Verhältnisse den westlichen an. Also eher kein Ende des Kriegs zu erwarten.

 

Auf welcher Seite steht Mühsam? Als Pazifist natürlich auf keiner, aber am allerwenigsten auf der Seite der Deutschen, deren „Beamtencharakter“ er trefflich zu beschreiben und in eins damit zu kritisieren versteht. Aber ist Erich Mühsam nicht auch ein harter Hund? So etwas wie die Genfer Konvention ist für ihn ein Luxusprodukt. Am 24. Januar 1915 trägt Mühsam in sein Tagebuch ein: „Der Luftangriff auf England ist Gegenstand heftiger Erörterungen. Der Major Hoffmann regte sich sehr darüber auf. Es sei unerhört, daß man aus dieser Sache eine Heldentat mache, daß die Leute bei Regen und Nebel über die Städte fahren und, ohne zu erkennen, was sie angreifen, wo sie Laternen sehn, Bomben abwerfen. Ich mache diese Entrüstung nicht mit. Entweder garkein Krieg oder jede Sauerei!“ Etwas später, Ende April, liest man: „Ich kann mich der Ansicht nicht verschließen, daß das Ausräuchern der Schützengräben mit Chlordämpfen nicht ärger ist als das Töten der Insassen mit Patronen und Granaten. Daß sich dieser Krieg in keinen ritterlichen Formen abspielt, weiß man ja schon.“ Mühsams conclusio: „Dabei kann ich aber persönlich doch nicht darüber hinweg, daß eine Schurkerei der Kriegführung sich stets aus der anderen ergibt, daß das Suchen nach Schuld oder Nichtschuld höchst unfruchtbare Arbeit ist, und daß alle solche Entsetzlichkeiten eben doch einfach Konsequenzen des Krieges selbst sind.“

 

Was könnte dagegen aber die doch wohl nötige Gewalt von Revolutionen rechtfertigen? Den Zweck des Kriegs sieht Mühsam in der „Erhaltung seiner Ursachen“. Die „Erscheinungsweise [das heißt Mord und Verwüstung] werde erst dadurch unsittlich, daß Töten und Vernichten nicht für das Ideal der Ausführenden, sondern der Auftraggeber geübt wird.“ Kann man das noch eine idealistische Position des Anarchisten Mühsam nennen, oder ist das schon gefährliche Naivität? Zur Abklärung dieser Fragekonstellation wird ein ganzes Jahrhundert nötig werden. Glück im Unglück des Kriegs hat Mühsam dann aber doch noch: Nach einer Nachmusterung wird er endgültig als kriegsuntauglich ausgemustert – ein Ausflug in die „chlorreichen“ Gefilde des Kriegs bleibt ihm erspart.

 

Dieter Wenk (6-13)

 

Erich Mühsam: Tagebücher, Band 4, 1915, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2013 (Verbrecher Verlag)

www.muehsam-tagebuch.de