22. Juni 2013

Arte povera

 

Schlechte Kunst 6

I

Dirk Raspe, das ist einer, der sich sucht, indem er andere sucht, die echt sind. Von diesen will er dann künden, in und mit seiner Kunst. Er ist nämlich Künstler. Genauer gesagt wird er erst Zeichner, dann, immer noch an die Zeichnung gebunden, Maler. Die Zeit ist die des ausgehenden 19. Jahrhunderts, erst ein paar Jahre später werden die Künstler aufhören, Zeichnung und Malerei gegeneinander auszuspielen. Dirk Raspe, das ist einer, der einem anderen nachempfunden ist, Vincent van Gogh. Der Name des Holländers taucht in Mémoires de Dirk Raspe nicht auf, ihr Autor, Pierre Drieu la Rochelle, macht kein Geheimnis aus der Folie.

 

Dirk Raspe, der früh seine Eltern verliert, wächst in einer englischen Pfarrersfamilie auf. Er lernt zu unterscheiden zwischen materieller und geistiger Armut. Er zeichnet. Niemand hat ihn dazu angehalten. Er lebt im Umfeld „schlechter Kunst“, die er mag. Er kennt keine andere. Und doch ahmt er diese Kunst nicht nach. Er lernt die Häuser der Armen kennen und stellt fest, dass sie noch niemand beschrieben hat. „Die Künstler, Romanautoren oder Maler, sind für immer von den Armen getrennt, denn sie verschönern alles, was sie berühren, sie verklären; nichts aber bei den Armen kann verwandelt werden.“ Als die Heywoods Dirks Zeichnungen entdecken, gibt es einen kleinen Skandal. Sie erkennen in ihnen nichts wieder von dem, was sie von einem Künstler erwarten, und ein Künstler ist für sie immer nur einer, der immer schon da ist, also sanktioniert. Sie beurteilen die Zeichnungen als schwach und können doch nur mit Dirks „Obsession der Armen“ nichts anfangen. Der reife Dirk Raspe sagt es so:

 

„Es ist etwas Starkes, Notwendiges, Heiliges in diesem Misstrauen der Menschen vor dem Erscheinen der Kunst. Dieses Erscheinen ist oft genug nur eine eitle Anspielung, ein gebrechlicher Anspruch. Und die Kunst ist im gleichen Maß eine Bedrohung und eine Gefahr für das Leben.“ Gute Kunst, so wie sie Dirk später kennen lernen wird und selbst zu machen versucht, muss etwas Lebens- oder Weltanschauungsbedrohendes haben. Zwei Notwendigkeiten prallen aufeinander. Die des, sagen wir, Bürgers, der vielleicht nicht sich selbst, so doch etwas gefunden hat, woran er sich in seinem Leben halten kann. Und die des Künstlers, der sich erst aus seiner schlechten Schale herausarbeiten muss; und die gefundene Form als notwendige wird die Antwort auf die Frage gewesen sein, die er sich anfangs irgendwie gestellt haben muss. Wenn beide Notwendigkeiten jeweils für sich stehen, das bloß Plausible also hinter sich gelassen haben, dann fragt es sich, wie das „Heilige“ des Kunstbetrachtermisstrauens entschärft werden kann, damit es überhaupt zu einer Begegnung kommt. Aus der heiligen Furcht wird zum Beispiel das scheinheilige Sichbegeistern für. Zwei ganz unterschiedliche Einsätze wechseln einander ab, und die „Kunst“ von dritter Seite (Kunstvermittler, die zu Kunstmoderatoren werden, Kunst „moderat“ machen) wird darin bestehen, die wesentliche Distanz möglichst unempfindlich zu machen. Die große Kunst in diesem Sinn weist sich dadurch aus, das missing link einsetzen zu können bei gleichzeitiger Verdeckung dieser Operation. So läuft dann auch die Bahn der Kunstgeschichte. Wie reagieren darauf Künstler. Reagieren sie?

 

II

Im zweiten Teil der Memoiren wird das Feld der Kunst entsprechend besetzt. Dank der Beziehungen einer der Söhne der Heywoods gelingt es Dirk, bei einem Kunsthändler in London, einem Mr. Philip Mack, zu arbeiten. Dieser gehört zu den ersten der Stadt und hat das, was zu diesem Zeitpunkt Dirk noch nicht besitzt, das Gespür [sens] für Malerei. Das verhindert nicht, dass Mack dem zugleich ahnungslosesten und reichsten Publikum nur schlechte Kunst verkauft. Dirk wohnt bei einer Mrs. Porlock, zu deren Gesellschaftskreis auch ein Maler gehört, Donald Reeve, der als Porträtist von seiner Malerei leben kann. Dirk besucht die Kunstmuseen, er fängt an, selbst zu malen. Und er beginnt zu unterscheiden, zum Beispiel gute von schlechter Kunst, aber auch schlechte Kunst von wertloser oder unbedeutender [nul]; die Nuancierungen werden im weiteren Verlauf noch zunehmen. Die peintres nuls werden folgendermaßen charakterisiert:

 

„Die wertlosen Maler sind solche, die überhaupt keine Maler sind und die das Metier gewählt haben aufgrund eines winzig kleinen Rests handwerklichen, mit Eitelkeits- und Trägheitsberechnungen komplizierten Instinkts. In der Tradition sehen sie nur bequeme Rezepte, während doch die Tradition eine von Unruhe und Gewalt aufbrausende Quelle ist.“ Die schlechten Maler kommen in der Rückschau des reifen Raspe, der sich lange ein Faible für schlechte Malerei bewahrt, gar nicht so schlecht weg. Direkt im Anschluss heißt es: „Die schlechten Maler gehören einer ganz anderen Rasse an; sie werden als Maler geboren in dem Sinn, dass sie als echte Handwerker geboren werden; das ist schon viel…“ Aber wie emsig sie auch zu arbeiten verstehen, wie gut sie auch die Tradition verarbeitet haben, zuletzt haben sie „nichts zu sagen“.

 

Als Beispiele schlechter Künstler führt Raspe zwei französische Künstler an, von denen man weiß, dass auch van Gogh sie durchaus schätzte, Ernest Meissonier und Félix Ziem. Raspe charakterisiert Meissonier als „exzellenten Handwerker“, der geschickt das Licht zu behandeln verstehe, aber „seine Seele“ habe „nichts zu erzählen“; er sei ein „guter Arbeiter für gute Bürger“. Während Meissonier Raspe durch sein Metier berührt, also durch all das, was er kann (und der junge Dirk eben überhaupt nicht), rührt Ziem an Dirks tiefer, anfangs noch ganz unbewusster „Neigung“ zu Licht und Farbe. Als Verkäufer bei Philip Mack versteht es Dirk schnell, die Kundschaft für das Schlechte zu begeistern, was ihm anfangs noch Spaß macht. Er preist die Tatsache an, dass überhaupt gemalt wird, egal also was und wie. „Jetzt aber brachte mich die Tatsache, dass nicht gemalt wurde und der Eindruck entstehen sollte, dass gemalt wurde, auf.“

 

Diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied möchte er auch den Intelligenteren seines Publikums begreiflich machen, aber Dirk muss einsehen, dass die Käufer betrogen werden wollen. Gegenüber der nicht korrigiert werden wollenden Selbstbegeisterung der Kunstklientel vor schlechter Kunst ist Dirk machtlos. Der gewiefte Mack gibt Dirk indirekt und doch deutlich zu verstehen, dass das nicht das Problem des Kunsthändlers sei. Mack, der die Unterschiede kennt, hat in seinem Hinterstübchen einen Schatz, ein „Heiligtum“, in das nur „gewisse Käufer mysteriösen und reservierten Verhaltens“ eintreten dürfen. Als sich Dirk einmal in der arrière-boutique umschaut, weil der Schlüssel stecken geblieben war, sieht er das, was ihn aus der Fassung bringt: Er macht die Bekanntschaft der Malerei von Goya und Delacroix, aber es ist „zu viel“. „Ein tiefer Zweifel ergriff mich und ich rief die Mächte des Vergessens, um mich von dem Taumel zu befreien.“ Was Dirk nicht vergessen kann, ist die Beleidigung durch belanglose Kunst. Donald Reeve, jener Maler aus dem Umfeld von Dirks Vermieterin, ist ein Repräsentant der peinture nulle. Mit den beiden Porträts von Mrs. Porlock und ihrer Tochter Evelyn ist er auf dem alljährlichen Kunstsalon der Akademie vertreten. Nach dem Schock durch „hohe Kunst“ sieht sich Dirk einer Attacke ganz anderer Art ausgesetzt, als er Reeve besucht:

 

„Inmitten dieses parfümierten Schmutzes wäre ich beinahe vor dem ersten Anflug von Übelkeit gestorben. Das war so wertlos, dass man noch nicht einmal die Einflüsse erkannte; er imitierte die Nachahmer zweiter Hand.“ Dirks gewissermaßen „moralisches“ Fazit dieses Besuchs: „Die wertlose Malerei zeigte, was sie war, eine Bösartigkeit, die die Seelen verwüstete und das Leben aushöhlte.“ Mit dem Blick eines Brandsetzers kehrt Dirk in Macks Laden zurück. Mack möchte wissen, was los ist. Natürlich kennt Mack das alles, was Dirk in Aufruhr versetzt. Aber er ist Profi und er schaut ein bisschen über den Rand; dabei geht es nicht um Rechtfertigungen, sondern um die Überprüfung jeweiliger Positionen in der Gesellschaft. Am Beispiel eines Käufers übler Kunst, Lord X., sagt Mack: „Lord X… ist bemerkenswert – sagt man – in seinen politischen Ansichten; aber bei der Malerei hat er weder die Mittel noch die Zeit, gut zu urteilen, deshalb verhält er sich vor unseren Gemälden so dürftig. Wir sind alle wie er angesichts dessen, was wir schlecht kennen.“ Dirk fühlt sich geehrt, dass Mack von „unseren“ Gemälden spricht. Von seinem frisch gekürten Feind Reeve spricht Dirk so: Er habe gemerkt, dass ein Maler ein „Mörder“ [assassin] sein könne. Die Atmosphäre zwischen Dirk und Mack ist zum ersten Mal vertraulich, ein Einverständnis hat sich eingestellt, Mack plaudert ein bisschen aus dem Nähkästchen, immerhin begreift er sich wohl auch als Mentor seines Gehilfen. Die im ersten Teil der Memoiren gemachte Feststellung, dass gute Kunst eine „Gefahr für das Leben“ sein können müsse, wird von Dirk und Mack aufgenommen und umgekehrt, nämlich auf die tödlichen Kräfte der belanglosen Kunst bezogen. Mack nimmt Dirks Charakterisierung des Malers als Mörder auf und ergänzt: „Ja, natürlich. Deshalb stehen wir auch hier mit den Füßen im Blut.“

 

Immerhin stehen die beiden Männer in einem Raum des Händlers mit Werken  der „bedeutendsten Mitglieder der königlichen Akademie, des Institut de France“ und anderer Institute. „Dieser Laden ist ein Schlachthaus“, resümiert Mack mit einem befriedigten Lächeln, und Dirk kann es kaum glauben, was sein Herr da gerade gesagt hat. Wie schon weiter oben angedeutet benötigt dieser tödliche Antagonismus einen Moderator. Philip Mack vereint die eigentlich nicht zu vereinbarenden Positionen in eigener Person. Vielleicht hält er das aus, weil er selbst kein Maler ist. Seine primäre Aufgabe als Händler ist es denn auch, die jeweilige Tödlichkeit in ihr Gegenteil zu verkehren. Aus dem Schlachthaus wird ein Tempel, aus der furiosen Künstlerattacke dem Ahnungslosen gegenüber eine bloße ästhetische Unverfrorenheit. Wo bleibt da aber noch Raum für jenes missing link, von dem oben gesprochen wurde? In dem Moment, in dem sich das Einverständnis zwischen Dirk und Mack eingestellt hat, fällt ein Satz, von dem der Leser nicht weiß, wer ihn äußert, sicherlich nicht der junge Dirk, wohl auch nicht Mack, wahrscheinlich Raspe als Memoirenschreiber oder auch der diesem noch übergeordnete Verfasser dieser „Memoiren“, der Autor selbst. Der Satz, der so lapidar daherkommt und doch nichts weniger birgt als eine fortan permanent zurückgehaltene Explosion, lautet: „In jener Zeit war es noch nicht Sitte [la mode], dass jedermann gute Malerei verstand.“ Die Ruhigstellung vor guter Malerei ist ein Modephänomen, eine Konsequenz der guten Sitten, aber auf Dauer gestellt. Das jeweils dazwischengeschobene missing link funktioniert als gesellschaftlich abgesegnetes Missverständnis, das in keiner Weise produktiv zu sein hat. Es ist ein Spielball, der sich gefahrlos zuwerfen lässt. Und der eine kann sich freuen, dass er den Ball ins Spiel gebracht hat, der andere, dass er überhaupt mitspielen kann und darf. Mit einem Wort, das missing link ist die totale Inklusion. Aber das sind wie gesagt Beobachtungen aus einer anderen, späteren Zeit, aber diese Zeit dauert immer noch an. Mack zeigt Dirk schließlich ein Bild von Delacroix [Femme caressant un perroquet]. Zur Anerkennung von Dirk gesellt sich die Diskretion Macks – respektvoll zieht er sich zurück und lässt Dirk mit dem Gemälde allein, dem der spätere Memoirenschreiber die dem Jungen fehlenden Worte der Begeisterung in den Mund legt. Natürlich hat wie jeder andere auch der reife Raspe sein Beurteilungsschema, es speist sich aus einer Konzeption der Schönheit, die auf Baudelaire zurückgeht, der sie aus einem Teil Vergänglichkeit und einem Teil Ewigkeit zusammensetzt. Die Schonungslosigkeit der harten ästhetischen Beurteilung des jungen Raspe anderen gegenüber macht vor ihm selbst nicht halt. Einmal gelingt es ihm, eine Zeichnung einer von ihm bewunderten Frau, einer armen, etwa gleichaltrigen Prostituierten, in einem Kunstjournal, dem Artistic Magazine, zu platzieren. Als er die abgedruckte Zeichnung sieht, ist er enttäuscht, nicht weil der Druck so miserabel ist, sondern weil ihn die Zeichnung nicht überzeugt. „Zerstreut hatte ich die neuesten Ausgaben des Artistic durchgeblättert. Darunter war auch meine Zeichnung und ich beurteilte sie, mit einem höhnischen Grinsen, als wertlos. Genau das war die belanglose Kunst. Mir schien, dass ich niemals etwas anderes hervorgebracht hatte und dass ich mich damit begnügen müsse.“

 

III

Kurze Zeit später verlässt Dirk London. Er reist in eine Gegend, die man das Borinage nennen müsste, hätte man es bei diesen Memoiren mit denen van Goghs zu tun. Raspe begibt sich unter die Armen. Er wird Prediger, predigt das Evangelium, manche seiner Zuhörer finden die Ideen des Sozialismus überzeugender. Dann beginnt er zu malen. Mit Cyril Heywood, einem der Söhne des Pfarrers Heywood, der ihn schon länger finanziell unterstützt und mittlerweile als Kunstkritiker arbeitet, trifft er sich in seiner neuen Wirkungsstätte. Er erfährt, dass Cyril ein Buch über Delacroix vorbereitet, was ihm einen Schock versetzt. Cyril ist überzeugt, dass Dirk das Zeug zum Maler hat; am Ende der Begegnung wird Dirk als Maler neu geboren: „In diesem Augenblick verstand ich die Kunst.“ Und: „Es gab nur die Kunst.“ Dirk hat zwar kein Geld für ein eigenes Atelier, aber er geht an die Akademie. Er kontaktiert einen entfernten Verwandten, Gérard Tulp, der ein alter Maler ist. Mit Tulp kommt eine neue Künstlerbewertung ins Spiel, die des schlechten guten Malers [mauvais bon peintre]. Die Grenze zum schlechten Maler ist fließend, beide, der schlechte und der schlechte gute Maler, verharren in der Defensive:

 

Tulp war ein „schlechter guter Maler, ein guter Handwerker, der sein Metier kennt, redlich ist und sogar einen bis zur Feinheit und List gesteigerten Sinn dafür hat, was man suchen und verfolgen muss, und dafür, was man aufspüren und beseitigen muss. Mit Energie und Geschicklichkeit wusste er sich gegen die Täuschungen, den Schwindel, die falschen Effekte und die Gefälligkeiten zu verteidigen; er wusste sich zu verteidigen, aber er wusste nicht, wie man angreift. Gut gerüstet, die Wahrheit zu sagen, hatte er keine Wahrheit zu sagen, es sei denn die, die jeder gute Kerl besitzt. Aber wenn es einen guten Kerl braucht für einen Maler, so auch einen Banditen. Und ein Bandit war Gérard Tulp überhaupt nicht.“ Auch wenn es vom schlechten Maler hieß, dass er nichts zu sagen habe und vom schlechten guten, er habe keine Wahrheit zu sagen, siedelt Raspe letzteren auf der Seite der guten Kunst an. Nur eine Kleinigkeit fehlt, irgendeine „unheilbare Vorliebe“, eine Wildheit, ein „Bedürfnis nach Verwüstung“, eine „jähzornige Idee“. Diese besondere Ingredienz scheint in Raspes Augen überhaupt in der zeitgenössischen Malerei zu fehlen. Dirk Raspe, der sich selbst als „degenerierten Modernen“ begreift, sieht diese Malerei „verfallen“, die Modernen entbehrten die „glückliche Gewissheit der Alten [anciens]“, deren Verankerung in einem „Verständnis der Welt“.

 

Nicht dass die Malerei und die Kunst überhaupt unentbehrlich wären für den Fortbestand des Menschen als Menschen; „aber wenn die Malerei in Europa wiedergeboren werden soll, dann an dem Tag, an dem durch Feuer und Blut, Hunger und den Mangel aller materiellen Dinge hindurch – und das über Jahre hinweg – die Menschen eine einheitliche und totale, entscheidende und unwiderrufliche Anschauung des Lebens und dessen, was jenseits des Lebens ist, wiedergefunden haben werden.“ Auf dieses Konzept einer totalen Weltanschauung wird am Ende dieser Betrachtung zurückzukommen sein. An dieser Stelle der Memoiren wirkt diese „Analyse“ wie ein Fremdkörper, wie eine überscharfe Antizipation, aber weniger des reifen Raspe gegenüber dem jungen, sondern des realen und nicht fiktiven Verfassers dieser Memoiren, also Drieus, gegenüber seinem alter ego Raspe, dem jungen und dem reifen. Die beiden verwandten Maler beginnen Erfahrungen auszutauschen, sie zeigen sich gegenseitig ihre Bilder, Dirk Raspe wird immer selbstbewusster gegenüber Tulp. Er kritisiert ihn, aber er schätzt ihn auch und sieht ihn, Tulp, den „schlechten guten Maler“, durch einen Abgrund getrennt von einem „guten schlechten Maler“, ohne dass der Unterschied an dieser oder an einer anderen Stelle geklärt wird. Aber die Logik ist klar: Der schlechte gute Maler ist auf der Seite der Guten, der gute schlechte auf der Seite der Schlechten.

 

Ein weiterer Cousin Dirk Raspes taucht auf, ein gewisser Van Noort, ehemals Kunsthändler, der in seinem Haus eine Galerie betreibt mit, aus der Sicht Dirks, „einer ganzen Reihe alter Sachen zweiter Klasse und, mit Blick auf die Gegenwart, Arbeiten von Leuten ersten Rangs, was ihre allgemeine Bekanntheit anging, und Leuten zweiten Rangs hinsichtlich ihrer Qualität.“ Van Noorts Kunstgeschmack ist borniert, das teilt er, so Dirk Raspe, mit all denen, die nicht selbst Künstler sind: „Wie alle Kritiker, wie alle Dilettanten hasste er die Malerei; er wies alles zurück, was wirklich gut war an zeitgenössischer Produktion, aber noch nicht von der ,Zeit‘ sanktioniert worden war.“ Die Unverständigen werden darüber hinaus in zwei Klassen aufgeteilt: „Die Avantgarde des Kunstpublikums, die von den Kunstliebhabern oder Dilettanten [amateurs] und den Kritikern gebildet wird, ist gefährlicher als das Publikum, denn sie kann sich täuschen, sich dessen rühmen und damit die Künstler quälen, während das Publikum sich damit zufrieden gibt, schallend zu lachen oder sich abzuwenden.“ (1) Das Entfremdungspotenzial (zwischen Kritik und Künstler), das in dieser Gefährlichkeit stecke, wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Richard Wagner in einer anderen Beziehung verortet, nämlich der zwischen dem täuschenden (schlechten) Künstler und dem Publikum, dem durch die beinah im Kantischen Sinn zu verstehende moralische „absolute Schlechtigkeit“ des Künstlers das „wahre Kunsturteil“ ausgetrieben wird (vgl. hierzu „Schlechte Kunst 5: Die wahre Popart des Richard Wagner“).

 

Die Memoiren des Dirk Raspe berichten von der Entwicklung eines jungen Mannes hin zum Maler. Der Weg dorthin ist problematisch, aber vielleicht gerade deswegen umso zwangsläufiger. Auf seinem Weg der Selbstvergewisserung begegnet Dirk Raspe einem weiteren Maler, Stavelot, auch er auf der Seite der Guten, wenn auch erneut ein schlechter guter Maler. Raspe versucht, ihm gerecht zu werden, aber zuletzt bleibt er seinem „Vorurteil“, um das er weiß, treu, dass nämlich nur einer, der das Elend der Welt selbst kennen gelernt hat, ein guter Maler werden kann. Stavelot kommt aus gutem Haus, und das sieht man seinen Bildern an. Erneut taucht in Dirk Raspes Urteil über andere das „Schmerz-Apriori“ auf; ein Künstler muss hart gelitten haben, sonst taugt er nichts. Aber es geht ja nicht nur um Meinungen; die Werke selbst beginnen, sich zu bekriegen, zu „demolieren“. Während  eines Treffens mit seinem Cousin Tulp kommt es zum Eklat: „Wir ließen uns auf eine technische Diskussion ein, die ziemlich lange dauerte. Tulp vernichtete mich Stück um Stück; weil nämlich meine Malerei, Stück um Stück, seine Malerei zu vernichten begann. Ich existierte schon genug, um seine Atmung zu behindern. Das war keine Frage eines Talents, das einem anderen entgegengesetzt ist, sondern von einem Leben gegen ein anderes.“ Eine Zeit der Trennung beginnt. Mit niemandem, weder mit Frauen noch mit Männern (Malern) hält es Raspe mehr aus. „Alles bekam Risse, ging in Stücke, an allen Seiten.“

 

Die Memoiren enden hier, immerhin lebt Raspe/van Gogh; aber was ist mit seiner (oder eben auch: ihrer) Begegnung mit Gauguin, mit seinem Selbstmord? Drieus Mémoires de Dirk Raspe sind Fragment geblieben. Von sechs geplanten Kapiteln sind nur vier geschrieben und postum veröffentlicht worden. Nach Redaktion der vier Teile kehrt Drieu la Rochelle aus seinem Versteck auf dem Lande nach Paris zurück um zu sterben. Als notorischer Kollaborateur hat er kaum Überlebenschancen. Er lehnt es aber auch ab, in die sichere Schweiz zu fliehen. Im März 1945 bringt er sich um. Raspes Vision des Stahlbads, von dem oben die Rede war, als es um die erhoffte Renaissance der Kunst ging durch ein Meer von „Blut, Schweiß und Tränen“ hindurch, ist wohl die Rückprojektion eines Wunsches des Autors Drieu, der in der nationalsozialistischen Ideologie den besten Anwärter auf die Zertrümmerung der westlichen Dekadenz sah. Am Ende sah er sich auch in den Nazis getäuscht. Was aber genauso schockieren mag wie die Anhängerschaft Drieus zum Nationalsozialismus ist die Einsicht dieser Memoiren, dass nämlich gute Kunst tödlich sein kann, ja sein muss. Drieus Weltbild ist strikt dualistisch, antidialektisch. Was oben das missing link der Kunst genannt wurde, es gibt es nicht. Im vierten Teil der Memoiren liest man:

 

„Die Liebhaber der Kunst sind für mich immer ein Mysterium gewesen wie die Leser von Büchern und die Kritiker jeden Kalibers. Ich will damit sagen, dass ich immer daran gezweifelt habe, dass es einen vermittelnden Bereich [tranche intermédiaire] zwischen den Verdammten und den Auserwählten, zwischen denen, die nicht verstehen und denen, die verstehen, gibt. Im Grunde glaube ich, was Villiers einmal gesagt hat, dass es nämlich kein Fegefeuer gibt und dass die, die um den Himmel herumschleichen, in Wirklichkeit der Hölle zugehörig sind. Sie beweisen es im Übrigen sehr schön.“ Was auch immer man davon halten mag, Kunst in diesem Sinn ist immer biografisch rückgebunden, gute Kunst kann sich nur selbst legitimieren, sie entsteht aus „innerer Notwendigkeit“, davon weiß schlechte Kunst nichts. Gute Kunst ist authentisch. Zuletzt existiert sie nur für den Künstler selbst, der sich in und mit ihr in einen Todeskampf begibt. So gesehen zeigen moderne Museen tatsächlich Avantgarde, die Speerspitze –, aber nur von dem, was man dahinter nicht mehr sehen kann.

 

1 Vgl. hierzu den ersten Absatz von Roland Barthes‘ Le plaisir du texte [Die Lust am Text], in dem Barthes mittels eines Zitats den bewussten Abstieg vom Literaturkritiker zum „Amateur“ oder Dilettanten im Sinne Raspes/Drieus formuliert: „Ich wende meinen Blick ab, das wird künftig meine einzige Verneinung sein.“ Man sollte dann aber doch betonen, dass dieser Amateur ein Dilettant höherer Ordnung ist, der sich in seiner ganz eigenen, gewissermaßen „idiotischen“ Erhabenheit, ganz wohl fühlt. Und was die andere Seite des Amateurs angeht: Jeder Amateur hat das Zeug zum „Verehrer“, das lässt sich jedenfalls der Anekdote von Leo Stein, älterer Bruder Gertrude Steins, über den Maler Paul Cézanne entnehmen: „Beim Herbstsalon 1905 brach man vor seinen Bildern in schallendes Gelächter aus; 1906 hatte man Respekt; 1907 lag man auf den Knien: Cézanne war der Mann der Stunde geworden“. 

 

Dieter Wenk (5-13)

 

Pierre Drieu la Rochelle, Mémoires de Dirk Raspe, in: Pierre Drieu la Rochelle, Romans, récits, nouvelles, Paris 2012 (Gallimard), S. 1335-1551

Die Übersetzungen stammen von mir, D.W.