3. Juni 2013

„Sprich, damit ich dich sehe“

 

Dass die Gesprächsform des Interviews auch schon über 100 Jahre alt ist, mag man kaum glauben. Und bereits zu Beginn lässt sich ein dramatischer Wechsel der Darbietungsform erkennen. Schaut man sich zum Beispiel Interviews mit dem französischen Komponisten Claude Debussy (1862-1918) an, erkennt man, dass innerhalb von zwei Jahren eine Form erreicht wird, die noch heute Grundlage jeden Interviews ist, nämlich das Frage-Antwort-Spiel zwischen Interviewenden und Interviewten. Das war zu Beginn noch nicht der Fall. So interviewt im April 1902 am Vorabend der Uraufführung von Debussys Oper Pelléas et Mélisande ein gewisser Louis Schneider den Komponisten, das Gespräch erscheint dann aber nicht als Interview, sondern in einer redigierten Form, und zwar als durchaus wertende Nacherzählung, die vom Leser mit dem (Original)Gespräch nicht verglichen werden kann. Bereits einen Monat später gibt Debussy ein weiteres Interview, eine „Kritik der Kritik“ seiner Oper; diesmal bereits wenn nicht in O-Ton so doch in O-Schrift. Allerdings liest man auf drei Seiten keine einzige Frage, sodass auch hier der Eindruck entsteht, dass das Gespräch redigiert wurde und die Fragen eliminiert wurden. Im April 1904 liest man ein erstes Interview, das wirklich so aussieht, als ob es von heute stammen könnte.

 

Der neue Fundus-Band zum Künstlergespräch gibt keine Geschichte des Interviews. Er geht zurück auf eine Tagung, die im Juni 2010 an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg stattgefunden hat und dem „Interview“ gewidmet war. Den kritischen Hintergrund vieler Beiträge bildet die Frage, inwiefern den Bemerkungen des Künstlers zu seinem eigenen Werk ein besonderer, hervorragender, vielleicht sogar ausschließlicher Wert beizumessen sei. Spricht der Künstler wahr, oder handelt er bloß strategisch? Muss man in seinen Statements oder Enthüllungen die von allen erwartete authentische Entschlüsselung sehen, oder ist das Werk nicht für sich selbst schon authentisch genug, das nicht auch noch einen Klappentext verträgt, und sei er vom Meister oder der Meisterin selbst? Erstaunlicherweise wird in den Beiträgen der Medienwechsel zum Beispiel von Bild zu (Erklärungs)Text via Interview gar nicht zum Thema gemacht; es geht meist schlichter um die Frage, ob man dem Künstler in seinen Äußerungen trauen können soll oder nicht.

 

Ein Schwerpunkt der Tagung bestand offensichtlich in der Problematisierung des Interviews als bloß affirmativer Generierung von Künstlerpositionen zu ihrem eigenen Werk. Das Streitgespräch, so der Eindruck vieler, hat abgedankt und Platz gemacht einer grundsätzlichen Assistenzpflichtigkeit des Interviewers dem Interviewten gegenüber. Wie ein solches Streitgespräch heute (wieder) aussehen könnte, bleibt offen. Dessen Möglichkeit hätte zur Voraussetzung, dass sich der Fragende klar geschmacklich ausrichtet, dass er eine Position bezieht. Aber vermutlich hat man genau diese Form des Interviews als Streitgespräch einst bewusst hinter sich gelassen, weil man sich der Nichtnotwendigkeit der kritischen Position irgendwann bewusst wurde. Man will heute den Künstler nicht mehr belangen. Was will man dann? Vielleicht so etwas wie Situierung, Verschaffung eines Kontextes, ein bisschen Plausibilisierung, manchmal vielleicht auch ein bisschen Spaß.

 

In Paris hat 1993 ein „Gespräch“ zwischen dem Debord-Kenner Roberto Ohrt und Martin Kippenberger (alias Kippenbergerac) stattgefunden. Dieses Gespräch kann man sich zurzeit im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin, anschauen und vor allem anhören. Es wird auf Französisch geführt. Allerdings merkt man schnell, dass beide Parteien eine verschworene Gemeinschaft bilden, denn sie lesen Katalogtexte ab, Ohrt kann das ganz gut, sein Französisch ist passabel, aber Kippenberger kann halt gar kein Französisch, aber wie er es gar nicht kann, ist großartig. Abgesehen von den Insiderinformationen braucht es nicht mehr, um diesen witzigsten und unterhaltsamsten Begräbniskünstler der Kunst zu „verstehen“.

 

Dieter Wenk (5-13)

 
M. Diers, L. Blunck, H. U. Obrist (Hg.), Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs, Hamburg 2013 (Philo Fine Arts, Fundus 206)

 

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