20. Dezember 2003

Museumsspaziergang

 

Das Erfreuliche an Kunst ist, dass sie in ihren avanciertesten Vertretern immer einen Schritt voraus ist, sie sich aber mit der Zeit dann doch auch beschreiben lässt. Das lässt das Spiel der Kunst spannend bleiben, auch wenn sie selbst von ihrem Ende spricht, das dann aber doch nur ein bestimmtes Ende war, dem vermutlich noch andere folgen. Was aber, wenn ihr von außen beschieden wird, im dialektischen Wahrheitsermittlungsspiel keine entscheidende Rolle mehr zu spielen?

Luhmann interpretiert Hegels Diktum so, dass mit dem so genannten Ende der Kunst nur das gemeint sein konnte, dass Kunst zum ersten Mal begriff, dass sie nur mit sich selbst zu tun hatte, dass sie ihre eigenen Codes produzierte, die sie sich nicht von außen, zum Beispiel von der Philosophie, vorgeben ließ, und dass nur sie selbst entscheiden konnte, was Kunst war und was nicht. Das vermeintliche Ende der Kunst ist ihr eigentlicher take-off. Und in dem Moment, wo sie richtig loslegt, nämlich als moderne Kunst, haben es Ästhetiken jeder Couleur eher schwer. Es gibt keine Ästhetik, die nicht normativ verfährt, und das liegt daran, dass sie Unterscheidungen trifft, die nicht die der Kunst sind oder sein müssen. Daran krankt noch Adornos Ästhetik. Luhmann dagegen geht es in seiner Systemanalyse nicht um so etwas wie einen emphatischen Kunstbegriff. Ob Kunst gelingt oder misslingt, überlässt er dem jeweiligen Betrachter und im Weiteren dem System Kunst, das sich in jedem Moment fragen muss, wie und wohin es weitergeht. Diese Frage kann keine Kirche und auch kein Patronagesystem von sich aus mehr entscheiden, ohne dass damit gesagt ist, dass Kunst von außen nicht irritierbar sei, also auch korrumpierbar.

Aber auch hier ist Luhmann vorsichtig. Es geht ihm ja nicht um die Analyse von umzusetzenden Produzententräumen, die durch Interventionen machtgieriger Mäzene vergiftet würden. Luhmann denkt strikt in seinen einmal gesetzten und für alle gesellschaftlichen Teilsysteme geltenden Funktionsweisen sich selbst regulierender und wiedererzeugender Systeme, denen es vor allem darum geht, dass es wie auch immer weitergeht. Hierfür braucht auch die Kunst Medien, zum Beispiel Leinwand oder Vinyl, und Formen, die sie von allem unterscheiden, was sie nicht selbst sind. Solches zu konstatieren, ist nicht nur systemtheoretisch keine Plattheit, denn wenn es keine Wiedererkennbarkeit gäbe, wüsste man schließlich nicht, wo man sich befindet, und das ist im Museum genauso wichtig wie im Buchladen wie in der Art und Weise des Redens über Kunst, das immer da wiederaufgenommen wird, wo man es verlassen hat.

Es geht also auch und gerade in der Kunst um Anschluss und Anschlussfähigkeit. Nicht alles ist zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich. Das trifft sogar auf die Postmoderne zu, die sich nicht dadurch charakterisiert, dass sie alles möglich mache und alles egalisiere, sondern dass sie in ihrem jeweiligen Griff auf Vergangenes die dann vorliegende Formenkombination plausibilisieren können muss. Mit der Postmoderne hört die Kunst also auch nicht auf, sondern sie geht nur anders weiter, bis auf weiteres. Postulierte Enden der Kunst, die im Kunstwerk selbst, also nicht von außen, etwa im Kunstbetrieb oder als Zeitschriftenaufsatz, ablesbar sind, geben sich als Interventionen zu erkennen in der Erwartung einer anderen Kunst oder erst mal eines anderen Kunstwerks, das sich mit ebendieser Selbstnegation auseinander setzt und dem es vielleicht gelingt, den Ausschluss (der Kunst) erneut in die Kunst einzuschließen. Das klingt paradox, ist es auch, aber spätestens in dem Moment, wo einem ein Schrotthaufen im Museum über den Weg läuft, weiß man, was damit gemeint ist. In diesem Fall wird also die Löschung des Gegensatzes von Kunst und Nichtkunst dadurch rückgängig gemacht, dass der Haufen einen Namen hat, der ihm die Dignität zuerkennt, die ihm außerhalb dieses Raums abgeht.

Manchmal ist es eben nur noch die Signatur, die darauf hinweist, dass X Kunst ist. Man hätte es sonst übersehen. Man hätte es leicht, in den Gefilden gewitzter Endspiele und auch bei Luhmann selbst von Formalismus zu sprechen. Wo (die) Substanz fehlt, ist es schwer, vom Wesen der Kunst zu plaudern. Das heißt aber nicht, dass Kunst nicht mehr anspruchsvoll sei oder sie nichts mehr zu bieten habe. Im Gegenteil, sie bewegt sich oft auf extrem reflexivem Gelände, dessen Rand, als Form, als Kunst, nicht unbedingt zu erkennen gibt, mit welchen und mit wie vielen Kompressionen da gearbeitet wurde. Ob das aber für alle Kunstsparten gleichermaßen gilt, also für Musik, bildende Kunst und Literatur, des weiteren auch zu jeder Zeit, das ist eine Frage, die sehr spannend ist, die Luhmann aber mit seinem abstrakten Begriffsarsenal nicht beantwortet und wohl auch nicht beantworten kann. Und wenn, dann würde man es anders sagen, denn ab einer bestimmten Konkretion, die schnell erreicht ist, verlieren superabstrakte Termini wie re-entry, Fremdreferenz oder Selektion nicht ihren Sinn, aber ihren Wert.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=1>Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995</typohead>