15. Mai 2013

Ansteckungsgefahr

 

An seinen alten Schreibtisch am Pathologischen Institut, der jetzt im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité steht, wird Rudolf Virchow nie wieder zurückkehren, er ist schon lange tot. Die Zuhandenheit für den bekannten Arzt ist für immer dahin, der Tisch scheint nur noch vorhanden, als Arbeitsgerät dokumentarisch präsent. Für viele würde es in der Tat keinen Unterschied machen, wenn man diesen Tisch gegen einen anderen ersetzte, aber eben nicht für alle. „An diesem Tisch hat er also…“ „Vielleicht schrieb er an diesem Tisch die Vorlesungen über die Zellularpathologie…“ Wenn sich Sätze wie diese mit einem Objekt verbinden lassen, wird dieses aufgeladen, es erhält eine Aura. Die Aura ist der Niederschlag einer Person, die meist selbst schon auratische Züge trägt, auratische Wesen wirken ansteckend, und alles, was mit ihnen in Berührung kommt, ist auf seltsame Art geweiht.

 

Wenn also Derrida nicht zu Hause ist, dann stehen wir immerhin vor seinem Haus und kommen ins Nachdenken oder Grübeln. Die Aura ist wie die Pest, nur dass wir sie nicht fliehen, sondern wir uns ihr gerne stellen. Ja, wir stellen uns ihr anheim, in der Hoffnung, dass irgendein Rest, irgendein Bazillus uns doch bitte anstecken möge. Der Bekanntheit sind wir einfach hörig, jeder hat seine eigenen auratischen Favoriten. Und deshalb ist die Aura auch so wenig greifbar, sie ist nie einfach da. Vielleicht wird man ja enttäuscht, und es passiert gar nichts. Was zum Beispiel wollte Martin Heidegger in Griechenland? Auf Augenhöhe sein mit Heraklit? Heidegger wollte aber auch nicht als bloßer Tourist reisen. Heidegger konnte noch nicht einmal mehr Leichenbestatter sein, so spät kam er. Hier gab er wohl selber der Neugierde nach, die er ansonsten rückhaltlos kritisierte. In einem anderen Essay spricht Peter Geimer über „Capas letztes Bild“. Es zeigt den Kriegsfotografen neben einem sehr salopp gekleideten Militärarzt; kurze Zeit später stirbt Capa, indem er auf eine Mine tritt. Der Tod macht diese Aufnahme zur letzten, und sofort beginnt der Betrachter, die Züge Capas zu interpretieren: Der Blick ist nach unten gerichtet: Aha, er hat es schon geahnt, dass er nicht mehr lange leben wird. Oder (was nicht der Fall war): Er lacht. Wie konnte er lachen, da der Tod so nah war…

 

Geimer lädt das letzte Bild Capas zusätzlich mit einem Heidegger teuren Wort auf, dem „Vorlaufen in den Tod“. Denn, so Geimer, „auch hier ist der Tod kein ,Ausstand‘, sondern ,steht‘, um Heideggers Formulierung zu übernehmen, ,in das Bild hinein‘. Das mag sein, aber nur für uns, nicht unbedingt für Capa. Heidegger hat das Vorlaufen in den Tod immer strikt an die eigene Person gebunden, das Vorlaufen lässt sich nicht an andere abtreten. Ansonsten ist das doch ziemlich banal, denn es geht doch gerade nicht um ein Wissen bei Heidegger, sondern um die prinzipiell immer mögliche Ankunft des Todes. Hier scheint Geimer in die sentimentale Falle getappt zu sein. Aber ohne Sentiment keine Aura.

 

In den vielleicht stärksten Essays dieses Bandes lässt Peter Geimer die Aura ganz zurück und widmet sich der bildenden Kunst. In „Turners Linsentrübung“ geht es um die Frage, ob nicht wie schon bei anderen Künstlern ein physiologischer Defekt für gewisse Effekte auf den Gemälden verantwortlich zu machen sei und was das dann für die Bewertung der Bilder bedeutet. In „Das Gewicht der Engel“ schildert Geimer aberwitzige Versuchsaufbauten eines Naturwissenschaftlers aus dem 19. Jahrhundert, ein Text Geimers, der zeigt, wie schwer das Gewicht des Positivismus zumindest in Phasen auf der (bildenden) Kunst lag. Von hier aus lässt sich leicht extrapolieren, dass nicht nur die Fotografie die Künstler auf eine neue Spur gesetzt hat. Ein systematischer Datenfetischismus hetzte die Künstler in Regionen, in denen sie erneut ihren „Idiotismus“ entfalten konnten.

 

Dieter Wenk (5-13)

 

Peter Geimer: Derrida ist nicht zu Hause. Begegnungen mit Abwesenden, Hamburg 2013 (Philo Fine Arts, Fundus 205)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon