Recherche und Szenerie
Ulli Lust ist eine begnadete Szenaristin, wenn sie die Wirklichkeit in Szene setzt. Bekannt geworden ist sie durch ihre Reportagen. Mit ihnen nährte sie den Glauben an die Darstellbarkeit von Welt mit zeichnerischen Mittel. Jetzt hat sie Flughunde von Marcel Beyer in eine Graphic Novel übersetzt. In ihren Reportagen (ungeachtet ihres Beachtungserfolgs Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens von 2009, da ich diese nicht wirklich kenne) arbeitete jeder Strich der Gesamtszene so selbstverständlich zu, dass man ihre zeichnerische Fähigkeit als solche kaum als solche wahrnimmt. Nichts, was sie auslässt, fehlt auf ihren Zeichnungen. Anders bei der Adaption von Beyers Erfolgsroman Flughunde von 1995. Hier muss sie einen anderen Weg gehen. Dabei kommen ihr ihre Reportagefähigkeiten, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren und das Hauptgeschehen mit gezielten Detailbeobachtungen glaubhaft darzustellen, zugute.
Das hier gezeigte Bildbeispiel aus ihrem Fashionvictims-Trendverächter-Buch von 2008 ist vielleicht nicht das beste, wird aber meinem Anspruch, aus dem Feld zwischen Kunst und Comic zu berichten, gerecht.
Auch wenn Lust hier alles richtig macht, indem sie sparsam mit ihren Mitteln umgeht. Flughunde als Graphic Novel riecht doch stark nach einer Auftragsarbeit. Denn allein schon Beyers Geschichte eines leidenschaftlich dilettierenden Akustik-Nerds, dem das Verbrecherregime der Nazis eine Chance auf legitime Wissenschaftlichkeit ermöglicht, lässt unweigerlich Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen. Die Handlung ist bereits so spannend, dass Lust hier die richtige Wahl ist, da virtuose Zeichnungen hier fehl am Platz wären. Mit ihrer stimmungsvollen, farbig unterlegten Parallelmontage folgt sie der Dramaturgie des Buchs, das die vorzüglich recherchierte Geschichte der Familie Joseph Göbbels parallel zu der von Hermann Karnau, dem leicht autistisch wirkenden Akustiker, montiert, bis sich beide überschneiden.
Auch Ulli Lust hat gewissenhaft recherchiert, was Kleidung, Accessoires und Interieur jener Zeit betrifft. Sodass durch die wenigen Gegenstände auf den Panels die Zeit zu uns spricht. Und sie lässt der Entwicklung von Personen und Geschichten Raum, auch das ist ihr Verdienst. Vergleicht man die 360 Seiten starke Bildergeschichte mit dem 300 Seiten umfassenden Roman, wird deutlich, wie einfühlsam Lust diesen umgesetzt hat. Es ist eine sehr gute Graphic Novel geworden, und es freut einen, Lusts Fähigkeiten einmal anders eingesetzt zu sehen. Jetzt warten wir noch auf den Film zum Comic zum Buch.
Christoph Bannat
P.S.: Um sicher zu sein, ob es sich tatsächlich um eine Auftragsarbeit handelte, habe ich Ulli Lust kontaktiert. Suhrkamp hatte bei ihr angefragt, ob sie etwas aus seinem Programm in einen Comic übersetzen wolle. Nach vielem Lesen hat sie sich dann für »Flughunde« entschieden.
Ulli Lust: Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens, ein autobiographischer Comic, Avant-Verlag 2009, 29,90 Euro
Ulli Lust: Fashionvictims, Trendverächter. Bildkolumnen und Minireportagen aus Berlin, Avant-Verlag 2008, 17,95 Euro
Marcel Beyer, Ulli Lust: Flughunde – Graphic Novel, Suhrkamp 2013, 24,99 Euro