19. Dezember 2003

Tanz den Jambus

 

Jeder kennt das Ballett, niemand das Gedicht. Was für ein Gedicht? Ist Onegin kein Roman? Ja, schon, aber einer in Versen. Prosafassungen überforderter Übersetzer gab’s wohl auch, das russische Original liest sich jedoch in Strophen und vierfüßigen Jamben (einer weniger als „Faust“). Das Nationalepos der Russen. Kaum zu glauben. Aber hierzulande kennt ja auch niemand Racine. Den Erztragöden der Franzosen. Wenn hierzulande ein Dichter ein unvollständiges Skript abliefern würde, wäre der Lektor wohl sauer und schickte das Genie noch mal nach Hause zum Nachbessern. In mehreren der acht Kapitel des Onegin sind ganze Strophen ausgelassen, sei es, dass sie der damaligen Zensur zum Opfer fielen, sei es, dass Puschkin selbst den Stift anlegte. Auf jeden Fall sieht man die Lücke, die Strophe ist als Raster angelegt, und man meint, plötzlich Morgensterns „Fisches Nachtgesang“ in einer russischen Prä-Inkarnation vor sich zu haben.

Aber bevor man die erste Lücke sieht, weiß der Leser schon, dass es der Autor faustdick hinter den Ohren hat, alles gelesen hat, was es nicht nur zu seiner eigenen Zeit an Wichtigem gab und dass er mit all dem ganz wunderbar umgeht. Dauerironiker. Eigentlich überhaupt keine Dostojewski’sche Schwere und Pathologie. Kein Generationenkampf wie bei Turgenjew. Keine schwergewichtige Auseinandersetzung mit einem Schwergewicht wie bei Gontscharow. Aber auch keine epische Langatmigkeit wie bei Tolstoi. Die Berg-und-Tal-Versfüßigkeit dieses Buchs lässt erst gar keine Beschaulichkeit aufkommen. Es lässt sich auch in einem irren Tempo durchpflügen, weil man vieles gar nicht mehr verstehen muss. Das lässt man links liegen und behält nur den Rhythmus im Ohr.

Übrig bleiben vier Gestalten, zwei Männer (Freunde) und zwei Frauen (Schwestern), deren amouröse Aufregung, deren Kälte, Eifersucht usw. beschrieben wird, ein Paar bildet sich heraus, das andere kommt nicht zustande, dann gibt es einen Übergriff mit der damalig notwendigen Konsequenz des Duells, der Dichter stirbt, der Bohémien wurstelt weiter. Dann bekommt eine der Schwestern die Möglichkeit, nach Moskau zu gehen (heute wäre das wohl immer noch New York), aber sie hat gar keine Lust, na ja, die drei Schwestern kommen ja auch erst nach ihr auf den Sehnsuchtsgeschmack. Edle Resignation lässt sie einen nicht mehr ganz vollständigen General heiraten, Onegin trifft in Moskau erneut auf Nina (auch Tanja und Tatjana genannt), die einst von ihm zurückgestoßene, und wie er sieht, was sie dort aus ihrem Leben gemacht hat, dass sie aufgrund ihrer Heirat mit dem General in die höchsten Kreise eingedrungen ist und sie sich dort comme il faut zu bewegen weiß, ohne dass ihr das irgendetwas bedeutet und dass sie ihm gegenüber so kühl ist, ohne dass sich das einer der üblichen Machinationen des Sich-interessant-machens verdankt, verliebt sich Onegin in sie und gesteht es ihr. In diesem Moment tritt der General auf. Ein erneutes Duell? Oder fliegen schon hier die Kugeln durch die Zimmer? Puschkin bricht hier einfach ab. Als ob ihm das zu blöde wäre, auch das noch zu schildern. Ein kurzweiliges Buch, eine nette Neckerei.

 

Dieter Wenk

 

Alexander Puschkin, Jewgeni Onegin, Frankfurt am Main/Leipzig 1999 (Insel)