10. April 2013

TAKTGEFÜHL IN DER WISSENSCHAFT

 

Ein Sammelband zu klanganthropologischen Studien

 

Wie wachsam sind wir im täglichen Leben, wenn wir anderen Menschen, aber auch Ereignissen, Gebäuden, Gerüchen, Sinnen allgemein begegnen? Gehen wir an alltäglich gewordenen Menschen, Dingen und Ereignissen achtlos vorüber, weil sie für uns schon so selbstverständlich geworden sind? Holger Schulze sammelt in dem dritten Band der Sound-Studies-Reihe beim Bielefelder transcript verlag klanganthropologische Studien, die sich der kleinen Wahrnehmungen, der meist überhörten Vorgänge annehmen. Es stellt sich zunächst die Frage, in welcher Sprache sich man diesem / diesen „Gespür – Empfindungen – Kleinen Wahrnehmungen“ (So auch der Buchtitel.) nähert. Dies interessiert nicht allein aus sprachwissenschaftlicher Sicht, sondern mehr noch aus der Einsicht, dass sich gewisse Methoden eher grobschlächtiger Praktiken bedienen, d. h. kleine Wahrnehmungsspuren eher verwischen denn aufzeichnen. Holger Schulze legte bereits 2005 in seinem Buch Heuristik. Theorie der intentionalen Werkgenese „sechs Theorie-Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde“ vor, die sich mit der Entstehung von Projekten und dem möglichen Scheitern derselben beschäftigen. Die Themen unterscheiden sich in den zwei Büchern, jedoch nicht der von Schulze gewählte methodische Zugriff: Einzelne Phasen der Genese werden erzählerisch präsentiert, mit theoretischen Reflexionen gekoppelt und ergeben so, wenn es auf Klang bezogen wird: sonic fiction. Jetzt scheint die sonic fiction mit der Gattung der theory fiction verknüpft zu sein, d. h. es werden Handlungen entworfen, die sich um theoretische Probleme drehen. Das hört sich für jetzt alles andere als spannend und einladend an – vor allem, wenn man die zunehmende Technologisierung, besonders auch in der Bürokratie, bedenkt. Wer in einer Wohneinheit lebt, entkommt den Radiofrequenzen und TV-Ausstrahlungen nicht – er ist im Datennetzwerk und somit auch konsequent in der Gebührenfalle gefangen. Doch Theory Fiction unterscheidet sich von den hier präsentierten klanganthropologischen Studien. Die Beiträger exponieren das wissenschaftlich relevante Problem, das sie untersuchen wollen, jedoch nicht im allgemein anerkannten akademischen Stil, sondern verweben die Theorie mit anekdotenhaften Erzählungen.

Donata Schoeller etwa:

„Stellen wir uns vor, wir sind inmitten eines Gesprächs. Die Argumente gehen hin und her. Man ist sich nicht einig, aber es ist noch nicht eindeutig auf den Punkt gebracht, an was die Uneinigkeit liegt. Der Argumentenabtausch beschleunigt sich, ohne dass man sich begegnet, ohne dass gegenseitiges Verstehen entsteht oder Fortschritt im Gedankengang. Während wir sprechen, begleitet uns ein unbestimmter Druck oder ein Unbehagen. Wir achten nicht darauf. Wenn wir uns darauf berufen würden, dann würde unser Gegenüber womöglich misstrauisch. Empfinden ist kein Argument, bekommt als Referenzpunkt leicht esoterischen Anstrich. Wenn man sich diesem Empfinden aber vorurteilsfrei nähert, so muss man ihm ein gewisses Recht eingestehen, ohne dass es einfach recht hätte. Denn dieses Unbestimmte (in diesem Fall Druck, Unbehagen oder Unbefriedigtsein) enthält auf eine gewisse Weise die Situation des Gesprächs – aneinander vorbeizureden, nicht weiterzukommen.“ (S. 51)

 

Noch deutlicher wird die Rolle von Erzählmustern in der Klanganthropologie in Susanne Nemmertz‘ Beitrag zum Biwakieren in den Bergen. Der Artikel liest sich wie das Travelogue einer Bergwanderung, doch macht sich Nemmertz die einzelnen Handlungsschritte bewusst, denn davon hängt ein großes Stück ihrer Sicherheit ab. Kleine Wahrnehmungen sind neben den großen von erheblicher Bedeutung, denn zwar lassen sich Gewitterwolken anhand der Verdunklung des Himmels, also der Veränderung der Lichtverhältnisse, relativ leicht wahrnehmen, doch das Schlittern gewisser Steine durch andere Bergwanderer könnte der Beginn einer Lawine oder einer unangenehmen Unfallserie werden. Letztlich bleibt die Wahrnehmung auf Susanne Nemmertz beschränkt, da keiner der Leser bei ihrer Tour anwesend war. Es kommt also darauf an, möglichst präzise die Empfindungen zu schildern, die Nemmertz auf dem Weg durch die Berge verspürt. Die esoterische Komponente wird stets mitbedacht, weil Erfahrungen im Innern im Austausch mit der Außenwelt nie ganz verständlich für Externe werden können. (Dies ist der eigentliche Wortsinn des Adjektivs esoterisch im Altgriechischen, eine Lehre für einen geschlossenen Kreis.) Das unterscheidet sich letztlich doch von einer mystischen Erfahrung bei den Externsteinen, aber die strenge Subjektivität wird als heuristisches Moment wertgeschätzt:

„Eine historische Anthropologie des Klanges ist als Erkundung der individuellen Erfahrungsweise kulturell-historischer wie gesellschaftlich-künstlerischer Gegebenheiten ganz in diese Verfahren der Syrrhese und des Gespürs eingebettet und verankert. Ohne ein Gespür, ohne die Genauigkeit der Empfindung lässt sich kaum hinreichend bedacht und kenntnisreich über die Dinge menschlichen Lebens und Erfahrens sprechen.“ (S. 19)

 

Mystische Erfahrung ist jedoch eine sehr spezifische Art von Erlebnis. Bemerkbar wird in dem Sammelband ein deutliches mediales Problembewusstsein. Es ist von wesentlicher Bedeutung, ob die Empfindungen nachvollziehbar beschrieben werden. Also: Wie erfahre ich den Raum und wie schildere ich die Vorgänge – wobei die kleinen Zwischendetails nicht einfach übergangen werden sollen, Exkurse geschehen bereits während der Bergwanderung, unausgesprochen – doch wenn Frau Nemmertz das zu Hause niederschreibt, später für die Publikation bei transcript aufbereitet, geschehen Querverweise. (Sie führt am Ende des Aufsatzes Sekundärliteratur an. Autoren lesen wahrscheinlich immer noch ein weiteres Buch zu jeder Erfahrung, die sie im draußen machen?) Das Besondere beim Biwakieren ist, dass der Biwak mitwandert, das Zentrum also nicht an einem Ort verbleibt, sondern stets in Bewegung ist – und wenn man auf einem Berg oder im Tal steht, wo ist dann der „richtige“ Standpunkt, von dem aus man den Weg beurteilen kann?

„Passiere ich einen für das Biwak geeigneten Ort vor Erreichen der angedachten Biwakstelle, so wäge ich ab: Welche Qualität hat dieser Ort im Verhältnis zu dem Angedachten? Wie ist meine körperliche Verfassung, was ist mir wichtig und welche Bedingungen könnten sich verbessern? Ich reflektiere meine Situation. Bleibe ich oder gehe ich weiter?“ (S. 105)

Ganz anders, d. h. um einiges abstrakter und nicht so stark ‚verortet‘, wirkt Olaf Schäfers Eingabe zum Band. „Seine Raummaschine“ – der Text liest sich wie eine Science-Fiction-Geschichte, die zudem mit dem Zeichensatz experimentiert. In einer wissenschaftlich-strengen Perspektive wird diese Raummaschine, die ihre eigene Räumlichkeit durch den Leseprozess generiert, Probleme bereiten, da keine Metasprache gewählt wurde, sondern Raumerfahrungen von Schäfer in seiner Sprache geschildert werden. Da die Mystik solcher Erfahrungen bereits angesprochen wurde – in Schäfers Text kommt sie zur Geltung. Hier etwa: „Jene Dunkelheit kroch jetzt den Ritzen und Furchen der Zimmerecken und Kanten entlang, mit den Wänden kopulierend, die Architektur veredelnd, neue Früchte vom Baum der Erkenntnis versprechend. Ich selbst saß, das warme Licht der angeleuchteten roten Küchenwand in meinem Rücken, vor der Öffnung meines Wohnzimmers.“ (S. 111) Eine private Situation von Olaf Schäfer, der vor seinem Einstieg in die Sound Studies u. a. auch als Trompeter und Barbetreiber tätig war.

Andere Beiträge werden von Fotografien oder Grafiken begleitet – Klanganthropologie arbeitet ästhetisch nicht nur im wissenschaftlichen Sinne, sondern auch ästhetisch im gestalterischen. Die Leser dieses Buchs können den Nachvollzug der Klangerfahrung durch die Texte wagen. Um ein möglichst räumliches Erlebnis zu schaffen, werden manche Beiträge durch Grafiken ergänzt. Damit jedoch nicht genug – dem Buch liegt eine CD bei, auf der Rüdiger Schlömer aufgefundene Notizzettel zur Stiftprobe vor dem Kauf von einem Kammerorchester interpretieren lässt. Die Musik ist recht gewöhnungsbedürftig und wohl aufgrund meiner eigenen Sounderfahrungen heuristisch nicht besonders erkenntnisfördernd. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Schlömer schreibt in seinem Beitrag über die „Testsammlungen, die er in Schreibwarenhandlungen gesammelt hatte“ (vgl. S. 201). Ein paar Beispiele sind auch im Buch abgedruckt. Er geht den scheinbar sinnlosen Kritzeleien zum Testen der möglicherweise für einen Kauf infrage kommenden Stifte und Kugelschreiber nach. Findet dabei heraus, dass diese scheinbar sinnlosen Vorgänge mitunter Anregungen für weiterführende Theorie geben. Ähnliches konstatiert Holger Schulze in einem anderen Sammelband zur Popkulturforschung: „Jeder Gegenstand Populärer Alltagskultur im eingangs bestimmten Sinne kann dann Auslöser, Anreger und Bestandteil einer solchen ‚Sonic Fiction‘, einer Syrrhese werden.“ (Holger Schulze: Adventures in Sonic Fiction, Berlin 2012, S. 205)

 

Der Anstoß führt zu Notationssystemen generell und Schlömer findet heraus, dass „Programmierung als das Schreiben und Ausführen von Codes [...] keines Computers [bedarf], sondern [...] in ihren Grundzügen in jedem Zeichensystem enthalten [ist], solange es lesbar und damit ausführbar ist.“ (S. 210) Einen Satz weiter bringt Schlömer durch ein Florian-Cramer-Zitat „magic and Kabbalah“ ins Spiel. (John Zorn beschäftigt sich auf einigen seiner Platten für das Tzadik-Label auch mit der Kabbalah und verbindet es mit musikalischer Komposition.) Entsprechend taucht auch John Cage in manchen Beiträgen auf, der mit dem Stück 4“33‘ kleine Wahrnehmungen wesentlich in die Struktur seines Musikstücks integriert.

Die Klanganthropologie ist also von einer Pragmatik geprägt, die sich methodisch offen hält und eines nicht anstrebt: „Die Reduktion von Beweglichkeit und Situationsabhängigkeit unseres Handelns und Erfahrens auf simple Systematiken der Erfahrung, Methodologien des Handelns kann nicht das Ziel sein.“ (Schulze: Heuristik, S. 17) Der persönliche Ton macht die klanganthropologischen Studien auch vermittelbar mit Praxis – dies erinnert an den philosophischen Impetus des Sokrates, sich stets fragend an die Welt zu wenden, Dialoge mit anderen Menschen als Ausgangspunkt theoretischer Reflexion zu nehmen. Und was bei all der (unorthodoxen) Wissenschaftlichkeit nicht vergessen werden darf: „Ein persönlicher Ton lässt zunächst die Fallhöhe zwischen dozierendem Autor und vermeintlich ahnungslosem Leser verschwinden. Das Imponiergehabe wissenschaftlicher Distanz wird behutsam, doch beharrlich in eine andere, unserer Alltagserfahrung nähere Art der Beschreibung überführt.“ (Schulze: Heuristik, S. 24)

Der Autor, der hier schreibt, hat diese Maxime bei seiner Herausgeberfunktion für Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien verinnerlicht bzw. seine AutorInnen dazu angehalten, Scheuklappen abzunehmen (gesetzt den Fall, die Beiträger hatten noch solche von ihren Sinnen zu entfernen oder ihren Verstand zu überrumpeln). Ein persönlicher Vortrag macht die Erfahrung auch Lesern verständlich, die sonst einen weiten Bogen um den kleinsten Ruch von Theorie machen. Die Gründe hierfür sind bekannt: eine esoterische Chiffrierung der benutzten Sprache durch unnötige Fremdwörter und eben auch der Stil, dem man in dieser Rezension (leider) ebenso begegnet. Viele Substantive und formelhafte Wendungen, um in der entsprechenden Zielgruppe Anerkennung zu erhalten. Doch welche Zielgruppe haben diese Texte im Visier? Es fällt auf, dass sich die analytischen und methodologischen Texte abwechseln, ja, dass eine Methodik erst noch im Entstehen, besser: ständig im Entstehen begriffen ist. Dies verlangt Geduld vom Leser. Es geht nicht um Lehrmeinungen, sondern um den Prozess des Lernens selbst.

Hören hat mit Verstehen, mit Genauhorchen und Ohrenspitzen zu tun. Das führt Holger Schulze in seinem Beitrag aus: „Ich nehme meine Finger von der Tastatur; mein Augenpaar löse ich vom Monitor.

 

Schließe meine Augen.

 

Welches Maß an Hörsamkeit hat dieser Ort hier? Schlagen Schallwellen mir schmerzhaft auf das Trommelfell? Erstarre ich in stehenden Wellen, die zwischen glatten, parallel-rechtwinklingen Oberflächen hin und her schlagen? Müsste ich meine eigene Stimme erheben? Oder höre ich vielfältiges, tiefgestaffelt, in geschützten Nischen und offenen Hörachsen?“ (S. 238)

Die leeren Zeilen gehören zum Schriftbild – Schulze spricht von „Immersion“: Eine Anthropologie der materiellen Umgebung verbindet sich mit einer Wahrnehmung der sich verändernden Empfindungen. Eins ist klar: Nur wer über eine hohe Sprachfertigkeit verfügt, wird in der Lage sein, solche Texte verständlich zu formulieren. Was geschieht, wenn die Sprache zur Beschreibung der kleinen Wahrnehmungen fehlt? Man kann auch den Stift oder ein Klavier nehmen, um diese Empfindung zu „beschreiben“. Das Gespür begleitet Menschen im Alltag, ohne verschriftlicht sein und studiert werden zu müssen. Sicher, inzwischen gibt es Bücher, die diesem Gespür auf die Spur kommen wollen, doch sie sollten eher als „philosophische Romane“ gelesen werden. Es wird ein Leben auf der Suche nach den richtigen Worten geschildert. Doch das sollte nicht mit Literatur im Allgemeinen verwechselt werden: Es geht um eine kleinteilige Präsentation der Schritte des aufrecht gehenden Säugetiers namens Mensch. Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen – sagen wir: dem Schicksal einer polnischen Haushaltshilfe nach dem 2. Weltkrieg in einer deutschen Industriellenfamilie und der Schilderung des Gespürs für die Zwischentöne eines Gesprächpartners. Was ich damit sagen will: Die hier präsentierte Anthropologie der Sinne beschäftigt nicht nur Kultur- und Medienwissenschaftler, sondern kann Literaten zu einer Resensibilisierung ihrer (akustischen) Umwelt führen. Der Lärm wird eher mehr als weniger werden. Eine umfassende Darstellung der Noiseflut erfordert durchaus ein Minimum an theoretischem Vorverständnis – dies kann dann Theory oder auch geläufiger als Science-Fiction bezeichnet werden. Wie soll ein Schriftsteller, eine Autorin die Veränderung des Materials unter Schallwellen schildern können, wenn die eigenen Hörgewohnheiten, das eigene Beben des Bauchs bei Konzerten und Open-Air-Festivals nicht allein als Symptome aufkommender Übelkeit gelesen werden?

Die Schallwellen, die just in diesem Moment an mein Trommelfell schlagen, sind Ausgehlaunige an einem Freitagabend und ich weiß, bald muss ich diese Datei schließen, den PC herunterfahren und versuchen zu schlafen, weil morgen früh Arbeit ansteht, nicht am Schreibtisch, deshalb muss ich auch körperlich fit sein. Ich hoffe, meine Mitbewohner im Haus wissen dieses Gespür für die Disziplin zu schätzen und piesacken nicht nachher noch meine kleinen Wahrnehmungen mit Bassgedröhne einer elektrisch verstärkten Tanzmusik. Manchmal denke ich: Wie war’s, als es noch keine Stereoanlagen und Lautsprecher gab? Stritten sich die Paare mehr, schrien die besoffenen Heimkehrer umso lauter, blökten Kühe vor dem Fenster? Warum kann ich nur bei Stille schlafen? Abgesehen von einzelnen Autos auf der Nachtfahrt, dem Heulen des Windes, dem rauschenden Regen oder der Traumstimme im eigenen Kopf. Ich höre undeutliche Männerstimmen, ab und zu ein kurzer Schrei, untermischt vom hektischen Gelächter von Frauen. In gewissen stillen Momenten ertönt der Absatz von Schuhen auf dem Bürgersteig: Heimkehr in der Nacht, Ende einer ausgelassenen Feier oder enttäuschte Einsamkeit? Klanganthropologische Studien beginnen mit dem Hören und der Frage: Warum bin ich nicht unter den Beobachteten? Was distanziert mich vom Geschehen, das ich akustisch wahrnehme? Andere Momente kennen die Intimität, die Integration in der Handlung.

Der französische Philosoph Michel Serres, der für eine Ästhetik der Sinne nicht nur thematisch, sondern vor allem stilistisch interessante Texte schrieb, wird im Beitrag von Ulrike Sowodniok, aber auch von Holger Schulze mehrmals angeführt. Die Sinneswahrnehmungen verlieren durch eine distanzierte Sprache, die sich auf einer Meta-Ebene mit verschwimmenden Eindrücken beschäftigt, an ihrer Substanz. Es gehört zu den Empfindungen, dass sie vage bleiben (können) und an einem Ort passieren, der nicht leicht einsehbar ist. Introspektion hilft bei der Reise ins Innere des eigenen Körpers – vielleicht kann man sich die Gedanken wie kleine U-Boote vorstellen, ähnlich wie im Film Fantastic Voyage aus dem Jahr 1966. Wird das U-Boot als Fremdkörper in der Blutbahn wahrgenommen, durchleben die miniaturisierten Menschen im fremden Körper schreckliche Turbulenzen. Wer sagt, ob nicht die Gedanken von den Empfindungen stellenweise attackiert werden, sodass das Hirn eine Notbremse zieht, entsprechend klare Aussagen macht, wo eigentlich nur schreckliches Kauderwelsch herauskommen müsste?

Ich erinnere mich, wie der „Essentialismus“ bei einer Tagung zur Esoterikforschung in Tübingen 2007 als Schreckgespenst auf die Folien-Projektionen der Referenten gezeichnet wurde. Substanz unterscheidet sich nicht wesentlich von Essenz – beide verweisen auf den Charakter eines transzendenten Phänomens, das jedoch leicht mit esoterischen Wissensinhalten verwechselt werden kann, wodurch solche Positionen in der seriösen Esoterikforschung schwer zu halten sind. Man kennt die Vokabel „esoterisch“ als gleichbedeutend mit: nicht sofort einleuchtend, obskurant, geheimniskrämerisch, willkürlich und Schlimmeres. In den Sound Studies wird neben den theoretischen Beiträgen viel Platz für scheinbar subjektive Empfindungen eingeräumt, aus der Einsicht heraus, dass anthropologische Forschung kein naturwissenschaftliches Erkenntnisideal erreichen muss, sondern stattdessen der persönlichen Narration ein kritisches, d. h. zugleich hinterfragendes und förderndes Interesse zugestehen sollte. Substanz und Essenz gaukeln eine Ebene hinter der Wahrnehmung vor, die erst durch einen vermeintlich exklusiven Zugang erschlossen werden muss. Sie können jedoch auch eine Idee darstellen, die von jedem Menschen wahrnehmungstechnisch ein wenig anders verstanden wird. Zumal besonders in der Kunst viel von Substanzen gesprochen wird. Die Klanganthropologie verständigt sich darüber, wie dieser Klang zu hören sein kann.

 

„Menschen wissen von der Qualität des Gespürs und haben gelernt, ihren Verstand einzusetzen, um das Gespür zu initiieren, aufzusuchen und zu verfeinern. Denn nicht nur das Gespür bestimmt den Verstand, sondern auch das Denken kann auf das Gespür einwirken. Wenn Menschen eine Haltungsgewohnheit oder eine Atemweise korrigieren, werden die Elemente des Korrigierens zum Material des Gespürs in zukünftigen Situationen.“ (S. 33) Die Atemtechnik verbindet sich in Hajo Eickhoffs Artikel mit dem Zen-Buddhismus und entsprechender Bewusstseinserweiterung im Sinne einer Beschäftigung mit Philosophien und Ideen jenseits des europäischen Kulturkreises. Kulturanthropologisch werden Zentrismen schärfer unter die Lupe genommen: ob die Priorität des Sehens für philosophische Erkenntnis und die Wertschätzung des Verstandes und der Vernunft eben nicht Hand in Hand mit europäischen Prozessen zu verstehen ist. Philosophie ist dann nicht schöne Wissenschaft an sich, sondern von äußeren Interessen geleitet, die sich mit der vorherrschenden Kultur jener Zeit verbrüdert. Heuristisch scheint es bei bestimmten Gegenständen angeraten zu sein, sich von einer illusionär beschworenen Objektivität ein Stück weit zu verabschieden. Problematisch kann vor allem der große Magnet Ablenkung werden, wenn sich eine Empfindung ankündigt, eben durch kleine Wahrnehmungen, dieser Impuls jedoch abgezwängt wird, durch einen unerwarteten Telefonanruf, einen Stromausfall, einen wiederkehrenden Liebesschmerz (der durch eine gemeinsam geteilte Erfahrung oder ein Artefakt ausgelöst, also medial in den Haushalt gebracht wird) oder schlicht stärker werkenden Kopfschmerzen.

Schwierig wird eine Annäherung auch an Themen, die nicht allein historisch greifbar sind, sondern aktuell geschehen und täglich neue Protuberanzen des Ausdrucks kreieren. Musikszenen zum Beispiel, deren Wesen es ist, ständig neue Machwerke entstehen zu lassen und von Diskursen zu leben. Der amerikanische Psychologe und Philosoph Eugene Gendlin wird von Holger Schulze, aber auch anderen Autoren und Autorinnen des Sammelbands angeführt. Er nimmt die Uneindeutigkeit der Werkgenese ernst: Wer einen Musikstil schafft, entwickelt ein Gespür für die richtigen Schritte hin zum fertigen Album. Die Musikkritik beweist jedoch, dass das Gespür den Musiker, wie auch den Schriftsteller oder den Maler während des Prozesses täuschen kann. Zumindest nimmt dies der entsprechende Kritiker so wahr, er verbalisiert seinen Instinkt für das vorzeigbare Werk. Zu erklären, warum dieses hier an jener Stelle und nicht an der anderen gesetzt wurde, ist wenig erhellend. Mehr kommt es auf die Konsistenz der Empfindung an, die den Schöpfer blind führt.

„Eine vollständige Aufzählung all der Abhängigkeiten und Bezüge, die eine solch spezifische Konsistenz ausmachen, wäre dabei kaum möglich und wohl auch vergeblich. Nicht nur, weil die gesamte Situation sich schon wieder verändert hätte, sobald wir unsere Aufzählung beendet hätten; sondern, weil der Charakter einer Konsistenzerfahrung, eines felt sense, ein nicht-, höchstens ein vorsprachlicher ist:

Ein >felt sense< setzt sich, wie ein Gewebe, aus mehreren ineinander verwobenen Fäden zusammen. Er wird aber als ein Ganzes empfunden (oder gesehen, wenn wir das Beispiel des Gewebes weiterverfolgen). Ein >felt sense< ist das vielfaserige Gewebe körperlichen Bewusstseins.“ (Schulze: Heuristik, S. 88)

Klanganthropologische Studien versuchen, den ineinander verwobenen Erfahrungsreichtum zu sichten und stets in Bezug auf die eigene Wahrnehmung zu positionieren, die durch die Diskussion bestehender theoretischer und praktischer Ansätze eine notwendige kritische Dimension verliehen bekommt. Die Form des Essays bietet dem Schreibenden die Freude des Verfassens der Gedanken während des Dialogs mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Aus diesem Grund wird der vorliegende Sammelband, als Teil der Sound-Studies-Reihe, auch kritische Stimmen hören. Was hat zum Beispiel die Erzählung – ohne Fußnotennachweis – in diesen Sachbeiträgen zu suchen? Es sind doch sachliche Auseinandersetzungen mit klanganthropologischen Fragen?

Ulrich Pothast hat bereits in den 80er Jahren über diese Problematik in der Philosophie als akademischer Wissenschaft geschrieben: Um den Innengrund zu erreichen, verändert sich die gewählte Sprache. Insbesondere, wenn es um Aktualisierungen von Kunsttheorie geht, d. h. die Klanganthropologin Zeuge einer Performance oder Theaterstücks wird, die dabei auftretenden Empfindungen sprachlich erfassen möchte, aber während der Aufführung sich selbst streng untersagt, Notizen zu machen, da dies eine erste Ablenkung vom Wesentlichen wäre. Die Rekonstruktion verlässt sich alsdann auf die Memorierfähigkeit der Feldforscherin, unter Umständen wird jedoch eine Studioaufnahme, eine DVD-Aufzeichnung oder das offizielle Programmheft hinzugezogen. All diese kleinen Teile ergeben das große Bild – müssen entsprechend bei der Analyse der Rekonstruktion berücksichtigt werden. Das klingt komplexer, als es letztendlich ist, im Sinne von machbar: Das Gespür leitet die Klanganthropologin und ermöglicht eine Perspektivierung des Geschehens, wodurch die sonst eher abstrakte Theorie mit der Erfahrung geerdet und begründet wird (Stichwort: grounded theory). Der gelebte Moment rückt ziemlich in den Fokus, wenn auch einige der Beiträger lieber auf sicherem theoretischen als auf essayistisch-spekulativem Weg gehen möchten. Die Theorie, auch harte wie vom Philosophen Hegel, könnte Musikkritiker an ihrem Ausdruck und mehr noch an ihrer Wahrnehmungsfähigkeit feilen lassen – und wer es nicht gerne zugibt: Statt Georg Friedrich Wilhelm Hegel kann man ja in der In-Gruppe gerne sagen, man nehme jetzt eine ganz neue Droge: das Philosophie-Halluzinogen, abgekürzt: PHG. Ulrich Pothast betont das Erkenntnispotenzial der Musik anhand von Schopenhauer und Hegel, die dies besonders treffend in Worte packten. Es ist nicht nur eine folgerichtige Argumentation, sondern eine aus dem Innengrund kommende Entscheidung. Pothast beschreibt diesen Innengrund.

Sound Studies gehen der Wahrnehmung von Klang nach, wobei die Recherchen auch Querverbindungen zu anderen Artefakten der Populärkultur ergeben können. Heuristisch sind diese Verweise wichtig, denn sie ermöglichen ein umfassenderes Verständnis der Klangökologie, d. h. wie Klang mit anderen Faktoren der Umwelt zusammenhängt und welche Empfindung dadurch erzeugt wird – diese Situationsbeschreibungen findet man in mehreren Artikeln des Sammelbands. (Hier sei auf die reine Aufzählung verwiesen: S. 100, 114-115, 136, 168-169, 205, 235 und 253-254.)

 

Das Seltsame an dieser Rezension ist: Was hierbei über die Sound Studies und ihre Methodik geschrieben wurde, fügt sich wie selbstverständlich in jede literarische Praxis ein, die sich nicht in Handlung und Spannung allein erschöpft. Dem Erzähler muss man all diese Züge nicht erklären, er hat sie bereits verinnerlicht. Das Gespür für Wahrnehmung schärft jedes Wort und damit den Atemzug, der ihm die volle Ausdruckskraft verleiht. Wissenschaftlich muss noch eine Ebene zwischengeschaltet werden: eine Distanz zum Geschehen und Optionen zur Abstraktion. Aus der empathischen Einbettung und der kritischen Distanz (Überblick verschaffend) ergeben sich klanganthropologische Studien. Die Balance muss durch das Gespür jeweils nachjustiert werden. Anthropologie bedeutet, das scheinbar immer Begleitende in menschlichen Interaktionen sprachlich fassbar zu machen, denn ohne die Artikulation im Arbeitsgespräch oder in einem (dialogisch angelegten) Text kann nicht deutlich werden, was ein Mensch über andere Menschen und ihre Verbindungen untereinander denkt. Die Sound-Studies-Reihe bietet in dieser Hinsicht den Einstieg in ein spannendes Forschungsfeld.

 

Dominik Irtenkauf

 

 

Weitere Infos:

                                                                                                        

www.transcript-verlag.de/main/kul_sst.php

 

 

Holger Schulze (Hg.): Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012, transcript verlag, Sound Studies Vol. 3, Broschur

ISBN 978-3-8376-1316-2, 28,80 €

 

Weitere Literatur:

 

Schulze, Holger: Heuristik. Theorie der intentionalen Werkgenese, Bielefeld 2005

 

Schulze, Holger: Adventures in Sonic Fiction. In: Marcus S. Kleiner und Michael Rappe (Hg.): Methoden der Populärkulturforschung, Berlin 2012 [= Populäre Kultur und Medien; Bd. 3], S. 195-210