2. April 2013

Auszug aus dem Liebeshaushalt Gottes


Unter dem Datum des 21. Juli (ohne Jahr) hält der Tagebuchschreiber einen einzigen Satz fest, den er nicht zu Ende bringt: „Als Praline mir gesagt hat, dass Jacques mit Nelly schläft…“ (Übersetzungen vom Verfasser, D.W.) Der erste Eintrag dieses Tagebuchs eines betrogenen Mannes des französischen Schriftstellers Pierre Drieu la Rochelle stammt vom 9. Juli und bezieht sich auf den 1. Juli: „Ich gehe fort“. Die folgenden meist kurzen Eintragungen bis zum 21.7. zeigen dem Leser den noch namenlosen Mann in verschiedenen Orten in Spanien, niemand kennt ihn, niemand weiß, wo er sich befindet, die Anonymität ist gesucht. Er hat Geld genug, sich eine Weile treiben zu lassen, man merkt schnell, dass dieser Mann definitiv keinen Urlaub macht. Erst drei Tage später, am 24. Juli, erfahren wir etwas mehr über Nelly und Gille, so der Name des „Betrogenen“. Die Abreise (aus Paris) ist Folge eines Sturzes aus dem Himmel, in dem Gille glaubte wie ein Gott zu thronen.

 

Der Satz von Praline (sagt er überhaupt die Wahrheit?) wirkt wie eine Bombe, die mit Zeitverzögerungen funktioniert. Gille ist also nicht der einzige Liebhaber, womöglich hat Nelly neben Jacques noch einen weiteren, der im Tagebuch nur „der Andere“ genannt wird. Der Schock des immerhin vierzigjährigen Gille rührt wohl daher, dass er noch nie eine Frau betrogen hat und noch nie betrogen wurde. Aber bei einer maximalen Laufzeit seiner „Beziehungen“ von sechs Monaten mag das auch nicht verwundern. In dem Moment, in dem der „Kristall“ Sprünge zeigt, steigt Gille aus der Beziehung aus. Eigentlich weiß er nicht, was Liebe ist, denn Liebe ist Arbeit, so seine eigene Erkenntnis. Warum aber scheint ihn Nellys Verrat zu kränken? Ihr Verhalten kratzt an seiner Vorstellung von passion, Leidenschaft. Diese lässt sich in seinem Verständnis nicht teilen. Aber erst jetzt, nach der Enthüllung Pralines, scheint Gille das ganze Ausmaß an Umsturz klar zu werden, für das Nellys Verhalten steht. Nelly ist Tänzerin, aber offensichtlich vermag sie in Liebesdingen ihre eigene Choreografin der Attraktion und des Zurückweisens zu sein. Aber nicht nur das: Sie fordert Gille auf seinem „ureigensten“ Feld heraus: „Ich bin dem Wesen nach Reaktionär, weil ich es in puncto Frauen bin.“ Gille liebt die spanischen Bordelle, weil „hier alles an seinem Platz ist“. Keine bürgerlichen Verwerfungen zwischen sozialem und amourösem Prestige. Nicht dass Nelly zu bürgerlich wäre. Aber irgendwann hat sie damit begonnen, auf dem Feld der (von Gille noch ungeteilt angenommenen) passion eine „Inversion“ vorzunehmen. Plötzlich ist sie es, die den Ton angibt, die sich im ganz konkreten Sinn verschließt und Gille zur Frau, ja zur „Lesbierin“ macht.

 

Doch der Skandal des Reaktionärs bleibt aus, die Inversion findet Platz im Liebeshaushalt Gottes: „Gott ist ein Humorist. Aus dem am heftigsten männlichen Liebhaber macht er plötzlich ein Weibchen. Das positive Extrem wendet er ins Negative. Aus dem erfahrenen Mann [averti] macht er einen Invertierten [inverti]. So dreht sich das Rad.“ Aus dem reaktionären Monisten wird ein Dialektiker. Was er dabei aber nicht aufgibt, ist seine „leidenschaftliche Präferenz“, nämlich Mann, männlich zu bleiben. Genau hier interveniert Nelly, die das Spiel von Ebbe und Flut nicht mitmachen will. Und so fragt sich Gille, ob Nelly wirklich eine Frau ist, und ob er, Gille, so könnte man weiter spekulieren, nicht nur „lesbienne“ sei, sondern sogar homosexuell. Gille treibt die Aufweichung des reaktionären Standpunkts in dem Tagebuchabschnitt vom 18. August, dem längsten dieses vierzigseitigen Tagebuchs, in eine andere Richtung. Er ästhetisiert die Inversion. Und er verlagert das nun nicht mehr strikte Gegensatzpaar männlich-weiblich in die ästhetischen Gefilde von Einfachheit, Simplizität auf der einen Seite und Überfluss, Arabeske und Ornament auf der anderen: „Ich würde meine Liebe gerne situieren in einer Grenzepoche zwischen dem Klassischen und dem Barocken.“ Man könnte auch sagen zwischen dem Gültigen und dem Spielerischen, dem Verantwortungsvollen und dem Frivolen. Und Gille, der eben noch an der zu starken Mannhaftigkeit und Dominanz Nellys zu leiden schien, macht in der folgenden Passage auf eine ganz andere Gefahr aufmerksam, die als Verstellung, ja Vernichtung durch das Ornament bezeichnet werden könnte. Gille schreibt, immer noch unter dem Datum des 18. August:

 

„Diese Idee des Arabesken kann weit führen. Es gab diese langen Abschnitte in meinem Leben, wo ich, von der Liebe enttäuscht oder ermüdet von ihr, Zuflucht suchte im Vergnügen mit Dirnen. Zunächst ziselierten meine Zärtlichkeiten die Lust einer Geliebten; nach und nach trennten sie sie [die Lust] von ihr ab. Nach und nach wurde die Lust in meinen Augen zu einer fiktiven Person, fürchterlich präsent, aber von einer unmenschlichen Anwesenheit, wie ein Idol zwischen uns beiden. Von ihrem Schatten stach ich meine Geliebte aus, aber dieser Schatten drehte sich und drohte, mich meinerseits auszustechen. Ich entfernte mich von ihm, ich rollte mich weg ans Ende des Bettes. Meine Kräfte, gelöst von mir, wandten sich gegen mich; ich wünschte, dass sie, übertragen auf mein Gegenüber, auf mich zurückfluten würden. Ich wollte die Geliebte werden und dass die Geliebte mein Liebhaber sei. Von Variation zu Variation gleitet man, von Verzweigung zu Verzweigung geschieht es dem ersten Elan wie dem Saft im Urwald, der nicht nur den Ast ernährt, sondern auch die Kletterpflanze. Und schließlich schwächt die Kletterpflanze den Ast und verschlingt ihn.“ (1)

 

Die Beschreibung der Funktion der Arabeske, die selbst arabeske Züge trägt, führt ins Zentrum der Verbotszone der Liebe, zumindest in den Augen Gilles, nämlich sich keine Bilder und Vorstellungen von der Liebe im Moment der Liebe zu machen. Das hieße nämlich, wie oben schon angedeutet, die passion zertrümmern. Die eigentlich erwünschte Passivität der Frau schließt Konzentration nicht aus, Konzentration als Gegenstück zu Fingieren oder Simulation. „Das ganze Sein“ jeder einzelnen Geliebten Gilles (außer Nelly) sei in einem „einzigen Punkt zusammengefasst“ gewesen. Gille fragt sich also nicht nur, ob Nelly etwa keine Frau, sondern ob sie eine imaginaire sei, eine „Perverse“, die im Moment der Liebe eine autonome Vorstellungswelt unterhält.

 

Gilles Liebesgebot funktioniert wie ein Bilderverbot: Du sollst Dir in der Liebe kein anderes Bild machen als von mir, oder noch besser: Du sollst Dir im Moment der Liebe überhaupt keine Bilder und Vorstellungen machen, denn das würde sich gegen den finalen Aspekt richten, nämlich dass aus zwei Personen eine wird. Den mystischen Zug, den man darin erkennen kann, teilt der Autor Drieu mit seiner Figur. Er findet sich bei ihm auf allen zentralen Ebenen des Seins, der Liebe, der Religion, und leider auch in der Politik, die sich Drieu ab etwa 1934 – übrigens die Zeit, in der auch dieses Tagebuch entsteht, nicht anders vorstellen kann als Faschismus plus Verschmelzung. Die Liebeskonzeption dagegen trägt romantische Züge: In Fortführung des obigen Zitats liest man: „Und dieser einzige Punkt war da, wo sie war und ich auch, da, wo es weder ein sie noch ich gab, sondern nur uns. Dieser Punkt ergab sich aus der Koinzidenz zweier Gaben. Diese zwei Gaben ergaben nur eine, gegenseitig, die zwei Wesen in ein einziges auflöste. (…) Kein Egoismus, sondern der Gipfel des Seins.“ Das Ornament, die Arabeske ergeben vielleicht kein volles Bild, aber sie lösen es auf. Das Ornament steht nicht nur im Verdacht, nicht notwendig zu sein, es ist par excellence kontingent, es könnte auch anders sein. Nur als verschlingende Arabeske kann Nelly ihre passion aufteilen. Sie ist unmöglich, sie ist de mauvaise foi (Sartre), also scheinheilig. So jedenfalls stellt sie sich Gille in einem Moment der Reflektion vor: „Sie ist imstande, meine Lust von ihrer zu trennen: folgenschweres Symptom. Und sie ist imstande, sich Vorstellungen (représentations) zu machen: noch beunruhigenderes Zeichen. Sie lebt also mehr in der Einbildung als in der Realität. Sie erfindet? – sie ist lasterhaft. Sie ist lasterhaft, weil sie unfähig/impotent (impuissante) ist…“

 

Rekapitulieren wir kurz die Stationen Gilles: Er unterhält eine Beziehung zu Nelly; er erfährt, dass sie ihn betrügt; er flieht (ein großer Aufwand für einen, der angeblich nicht liebt); in Spanien scheint er sich zu entspannen: eine Reinigung?; mehr und mehr besetzt Nelly sein Denken, er räsoniert, theoretisiert, und am Ende steht eine Art verbales Liebesband. Ob dieses Ornament als Gabe taugt, auch wenn es nicht das Zeug hat zur „totalen Gabe“? Für Nelly? Gille scheint selbst daran zu zweifeln und behilft sich mit einer Notlösung, die zugleich die Pointe dieses Tagebuchs ist. Unter dem 10. September liest man – es ist der letzte Eintrag: „Na ja, Praline hat vielleicht gelogen und Nelly war nicht die Geliebte von Jacques.“

 

(1)  Machen wir an dieser Stelle auf ein Zitat von Clemens Brentano aufmerksam, der in einem Brief (Juli 1803) an seine spätere Frau Sophie Mereau einer Fantasie huldigt, die in einer gewissen atmosphärischen Nähe zu der Gilles steht: Positionsvertauschung, Aggression, Verschmelzung: „Wenn Du wüßtest, wie schön, wie allmächtig schwach Du bist, in meinen Armen so ergeben, so gebend, Du könntest noch besser verstehen, wie ich so kühn bin, alles zu durchbrechen; ach, es ist mir dann, als hätte ich die Welt in Flammen gesteckt, und Du allein seist unzerstörbar, und ich müßte mich flüchten in Dich, um Dir Deinen Geliebten zu erretten, und wenn alles ausgeglüht sei, so lägen  wir geschmolzen in eins, ein goldner Kern voll unendlicher Kraft, im Mittelpunkt, und Gottes Wille sei in uns gefangen, so daß eine neue Welt sich um uns anlegen müsse.“

 

Dieter Wenk (3-13)

 

Pierre Drieu la Rochelle, Journal d’un homme trompé, in : Pierre Drieu la Rochelle, Journal d’un homme trompé, Paris 1978 (Gallimard), S. 7-51

Clemens Brentano, Gedichte, Erzählungen, Briefe, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1981 (Insel Verlag)