25. März 2013

Operation Klassik

 

Lebensmittel des Fotografen Michael Schmidt

Das Gästebuch steht voller hämischer Bemerkungen. Viele Besucher verlassen frustriert die Ausstellung oder sind einfach ratlos. Als ob, so könnte man vermuten, beim besten Willen keine Tendenz des Fotografen Michael Schmidt erkennbar wäre. Und das bei diesem Thema: Lebensmittel. So heißt die Schau des in Berlin 1945 geborenen Fotografen, die noch bis zum 1. April im Martin-Gropius Bau in Berlin läuft. Die Ausstellung gleich nebenan im selben Haus von Margaret Bourke-White zieht mehr Besucher an, sie ist zugänglicher, die Fotos haben Titel, doch auch hier könnte man sich fragen, was zum Beispiel das Lächeln Stalins uns sagen möchte.

 

Michael Schmidt hat seine Ausstellung selber gehängt. Sie wird so selbst zum Kunstwerk. Im ersten Raum, schätzungsweise 60 qm, hängen gerade mal fünf Fotos und man läuft, in Richtung zweiter Saal, auf ein Bild zu, auf dem nichts zu sehen ist als ein, wenn man genau schaut, leicht nuanciertes Grau. Auf der Wand rechts daneben hängen – in erheblichem Abstand zueinander – zwei scheinbar identische Bilder von in Kästen liegenden Gurken, die von oben fotografiert sind. Um mögliche Unterschiede zu erkennen, muss man ein bisschen hin und her laufen. Ein weiteres Bild von Gurken taucht in anderer Nachbarschaft im letzten Saal auf, der nun reich orchestriert ist, ein Band von Fotos zieht sich um den Saal, an dessen Kopf etwa ein Drittel der insgesamt knapp 140 Arbeiten en bloque hängt. Ein paar Farbtupfer (eine grüne Paprika, ein grüner Apfel, eingeschweißte Salamischeiben) akzentuieren die Schwarz-Weiß-Fotografie. Alle Themen, Motive und Objektive finden sich hier gebündelt: Stehen wir vor einer Klagemauer, oder lädt uns der Fotograf zur Meditation ein?

 

Formal besteht Schmidts serielle Fotografie aus Reprisen, Verdopplungen, Spiegelungen, Teilungen, wir begegnen Einzelbildern, Dreierblocks, Fotowänden, aber wir sehen nichts, was in irgendeiner Weise auf Prozessuales hindeutet. Michael Schmidt bildet keine Produktionsprozesse ab. Er dokumentiert noch nicht einmal. Er zeigt nicht mit dem Finger auf Skandale (wie leicht wäre das gewesen). Aber seine größte „Sünde“ ist, dass er nichts erklärt. Wir wissen manchmal nicht, was wir sehen, und vor allem informiert uns Schmidt nicht, wo genau er eben dieses und dann dieses Bild gemacht hat. Schmidt reiste jahrelang durch Europa, er besuchte Fischfarmen, Brotfabriken, Schweinezuchtanstalten, wir sehen lebende und tote Tiere, Fertigprodukte –, aber Schmidt hat das geografische Band zerschnitten, wir können das Abgebildete territorial nicht zurückverfolgen, der Besucher ist auf Entzug. Die Reaktionen sind deshalb verständlich, der Künstler wird das eingeplant haben. Wir befinden uns im Zentrum der Ausstellung, egal wo wir gerade stehen. Nachdem wir eingesehen haben, dass der konkrete Referent gekappt ist und die Bezüglichkeit woanders gesucht werden muss, fangen wir an, auf das Neigungsgefälle der Bilder zu schauen. Weil anscheinend der Außenbezug nicht interessiert, müssen wir die Bilder nach innen, zueinander hin wenden, nicht in unserer Psyche zur Feststellung von Stimmungen, sondern in dem Ausstellungsraum selbst. Wir erforschen die Korrespondenz der Bilder. Wir beobachten Muster, entdecken Ornamentales und verstehen abstrahierende Züge auf den Bildern als mögliche Schule des Sehens. Pädagogik? Ganz im Gegenteil. Am Ende steht ästhetische Genugtuung.

 

Ganz im Sinne eines klassischen Ästhetikers, Karl Philipp Moritz, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit zahlreichen Schriften zum Programm der Autonomisierung der Künste beigetragen hat. In seiner 1793 veröffentlichten Schrift Die metaphysische Schönheitslinie stellt Moritz einige der hier vom Dichter in Anspruch genommenen Verfahren vor, die aus einer bloßen Verdoppelung der Welt (im Kleinen) ein für sich stehendes Kunstwerk machen: „Der Dichter schneidet die Fäden ab, wodurch die Begebenheiten eine Neigung außer sich bekommen könnten, er läßt dasjenige weg, was in eine andere Sphäre von Begebenheiten eingreift…“ Der Dichter (der Künstler allgemein) erreicht so eine Umpolung: Die Neigung nach außen (um bei Schmidt zu bleiben: der mögliche Hinweis auf einen Skandal) wird ersetzt durch die Neigung der Bilder zueinander. Der direkte Weg nach draußen, zur Wirklichkeit, in die „Wahrheit“, wird aufgehoben und eingelagert. Darauf reagiert der Betrachter und kümmert sich nunmehr um die innere „Succession“, die wiederum ein retardierendes Moment erfährt und in eine „Zusammenstellung“ ausläuft (das ist oder war die eigentliche ästhetische Tätigkeit). Natürlich wollen wir Michael Schmidt keine metaphysischen Absichten unterstellen. Er geht vermutlich nicht wie Karl Philipp Moritz (in der Gefolgschaft von Leibnizens „bester Welt“) von einem Naturzusammenhang aus, der göttlich beglaubigt ist. Aber auf einer anderen Ebene stellen wir eine erstaunliche Korrespondenz fest, und das scheint uns der eigentliche Punkt des Fotografen zu sein: Unübersichtlichkeit, Unüberprüfbarkeit. Bei Karl Philipp Moritz ist es der menschlich begrenzte Blick, der es nicht erlaubt, aus der (geraden) Wahrheitslinie eine (gekrümmte) Schönheitslinie zu machen: dazu ein fulminantes Zitat aus obigem Aufsatz:

 

„Wenn wir uns die Natur als einen großen Zirckel denken, deßen Teile insgesammt eine Neigung gegen sich selbst haben, um miteinander ein Ganzes auszumachen, so sind uns wegen der unermeßlichen Größe des Umkreises die Krümmungen fast unmerkbar, und wir glauben da allenthalben nichts als grade Linien, oder bloß abzweckende Mittel zu sehen, wo doch eine immerwährende Neigung zum Zweck ist, die uns entwischt, weil wir nicht einmal einen so großen Theil des Zirkels überschauen können, der uns eine wirkliche Krümmung darstellte; wir müßen diese Krümmung nur ahnden, nur errathen.“

 

Da das Kunstwerk per se kleiner ist als die Welt, werden nun in dieser kleinen Welt die Krümmungen sichtbar gemacht, die die große Welt dem bloßen Auge verwehrt. Diese kleine Welt ist aber nicht ein Modell der großen, sie hat eigene Gesetze, sie muss, aufgrund der Kleinheit, das meiste auslassen, was die große Welt zur großen macht. Manipulation in bester ästhetischer Absicht. Die reiche interne Bezüglichkeit durch die Neigung der Dinge zueinander (die gekrümmten Linien) macht aber nun die Schönheit des Werks aus. Moritz‘ Ästhetik steht nicht länger im Bann der Nachahmungsästhetik, der noch  Lessing das Wort redete. Die ästhetische Welt wir zum ersten Mal eigen, sie wird autonom. Noch einmal Moritz zum Verfahren dieser autonomen Ästhetik:

 

„Je unmerklicher ein Künstler diese Abstufung [von großer zu kleiner, künstlerischer Welt] machen kann, desto vollkommener ist sein Werk. Das Gehörige [sic!] weglassen ist also eigentlich das wahre der Kunst, die mehr negativ, als positiv zu Werke gehen muß, wenn sie gefallen soll.“

 

Man muss sich das wirklich klar machen, dass Moritz hier schreibt: das Gehörige weglassen. Spüren wir eigentlich noch den Nachhall dieses Skandals, den die klassische Autonomieästhetik damit erzeugte? Michael Schmidts serielle Bilder können gefallen, weil auch er „das Gehörige“ weggelassen hat. Voraussetzung dafür ist, sich mit dem Prinzip bekannt gemacht zu haben: weglassen und das, was übrig ist, nach innen wenden. Wir dürfen uns Michael Schmidt als einen klassischen Fotografen vorstellen. Noch die Fotografie mit in den Kreis der autonomen Künste aufgenommen zu haben ist vielleicht Schmidts erstaunlichster Zug.

 

Dieter Wenk (3-13)

 

Michael Schmidt: Lebensmittel, Martin-Gropius-Bau, Berlin (bis 1.4.13)

Karl Philipp Moritz, Die metaphysische Schönheitslinie, in: Karl Philipp Moritz, Die Signatur des Schönen – und andere Schriften zur Begründung der Autonomieästhetik, hg. von Stefan Ripplinger, Hamburg 2009 (Philo Fine Arts, Fundus 180), S. 83-93

 

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